Der Völkerbund prägte die DNA der UNO
Die gespenstische Generalversammlung der UNO, die eigentlich ihren 75-jährigen Geburtstag feiert, wirft erneut die Frage nach ihrer Funktion, wenn nicht gar nach ihrer Daseinsberechtigung auf. Aber worüber urteilen wir eigentlich, wenn wir die UNO kritisieren?
Manhattans Grand Hotels bleiben leer, die Regierungsdelegationen zu Hause, es ist ruhig um den Glaspalast. Drinnen, auf dem Podium der 75. UNO-Generalversammlung, ist nicht einmal der Schatten eines Staatsoberhaupts anwesend. Zum Feiern ist niemandem zumute.
Und dies nicht nur wegen der Pandemie, deren internationalem Management und wirtschaftlichen Folgen: Wachsende Spannungen zwischen den militärischen Grossmächten in Asien und im Nahen Osten erschüttern die von der UNO verkörperte internationale Ordnung schwer.
Und auf den meisten Kontinenten säen Nationalisten Zwietracht. Ganz zu schweigen von der globalen Erwärmung, gegen welche die internationale Mobilisierung trotz Bemühungen der UNO erst am Anfang steht.
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Ist die UNO bald hinfällig?
Fragen drängen sich auf: Ist der Multilateralismus in der Krise? Ist die 1945 etablierte Weltordnung mit der UNO und ihren Organisationen dabei zu zerbrechen? Wird nationaler Egoismus der internationalen Zusammenarbeit am Ende die Luft abschnüren?
Viele antworten darauf mit einem Ja. Davide Rodogno ist nuancierter: Der Professor für internationale Geschichte am Graduate Institut in Genf hält die Frage für sinnvoller, was die zwischenstaatlichen Organisationen eigentlich tun können oder wollen. Und aufzuzeigen, weshalb bestimmte Ziele ausserhalb ihrer Reichweite liegen.
Der UNO-Sitz in Genf in Zeiten der Pandemie (Bildergalerie)
Dazu kann ein Blick auf die Höhen und Tiefen des Völkerbundes helfen. Zu einem grossen Teil spiegeln diese nämlich die vergangenen und aktuellen Schwierigkeiten der UNO wider.
Kluft zwischen Idealen und Realität
Seit jeher kommuniziert die UNO ihre Errungenschaften und Ziele, indem sie ihre Ideale hochhält – und eigene Fehler verschweigt. Das Zeitalter des Marketings und der sozialen Netzwerke verstärkt diese Tendenz. Die UNO wird also an ihrer Kommunikation gemessen. Doch die Realität sieht meist ganz anders aus.
Diese Kluft zwischen den Ansprüchen und Idealen und der Realität wird von der öffentlichen Meinung immer wieder hervorgehoben.
Rodogno sagt es so: «Wenn es darum geht, die eigene Geschichte zu erzählen, ist die UNO äusserst schlecht, weil darin Selbstkritik kaum Platz hat. Sie vermischt Politik und Moral, und das Ergebnis ist selten überzeugend.»
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Der Historiker betont gleichzeitig aber auch wichtige Neuerungen, die der Völkerbund und die UNO hervorgebracht haben. Insbesondere mit Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen und den wirtschaftlichen Austausch, aber auch in den Bereichen Gesundheit, Transport und Kommunikation.
Ein Beispiel aus dem Jahrhundert des Aufbaus internationaler Organisationen: das Recht der Völker auf Selbstbestimmung.
Dieses Prinzip umfasst die 14 Punkte, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs festgelegt hatte. Sie dienten als Rahmen zur Gestaltung des Versailler Vertrags von 1919, dem Friedensabkommen zwischen Deutschland und den Alliierten, welche die Gründung des Völkerbunds ratifizierten.
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«Die 14 Punkte gelten nur für die Nationen, die sich selbst als zivilisiert betrachten», sagt Rodogno. Zwar wurden die Bestrebungen der Nationen, die aus den Trümmern des durch den Ersten Weltkrieg besiegten Osmanischen Reiches hervorgingen, durch den Vertrag von Versailles teilweise anerkannt.
Im Anschluss aber wurden sie durch mehrere Verträge zwischen den Grossmächten erstickt. Und durch Schutzmachtmandate ersetzt, die Frankreich und England im Nahen Osten übertragen wurden.
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«Mandate sind ein Ausdruck des westlichen Imperialismus», sagt der Historiker. «Und diese gewalttätigen und unterdrückerischen Kolonialregimes setzten ihren Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegungen fort, die sich in Asien, Afrika und im Nahen Osten ausbreiteten.»
Aber hätte der Völkerbund angesichts des damaligen Kontexts wirklich eine emanzipatorische und fortschrittliche Maschine sein können? Wo das Selbstbestimmungsrecht der Völker wirklich respektiert worden wäre?
«Ausgeschlossen», antwortet der Genfer Professor. «Der Völkerbund war Ausdruck des Willens der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Dabei handelte es sich um Kolonialreiche, die den Völkerbund nach ihrem Gusto aufbauten.»
Genau das gilt auch für die UNO. Auch wenn die Organisation die entkolonialisierten Länder integrierte und als Resonanzboden für Unabhängigkeitsbewegungen diente. Ihre Universalität entspricht dem, was ihre Mitgliedsstaaten bereit sind einzugestehen. Angefangen bei den fünf ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats.
Frieden, aber zu welchem Preis?
Frieden und internationale Sicherheit machen die Daseinsberechtigung der UNO wie auch jene des Völkerbunds aus. «Der Völkerbund war besessen von der Idee, alles zu tun, damit sich der Krieg von 1914 nicht wiederholt. Mit diesem Ziel vor Augen erweiterte der Völkerbund sein Tätigkeitsfeld auf die Entwicklung von Kommunikationsmitteln, ein Regelwerk für den Handel oder den Schutz von Flüchtlingen», erinnert Rodogno.
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«Ähnlich wie die UNO wollte auch der Völkerbund alles koordinieren – abgestützt auf den Glauben, über eine Legitimität zu verfügen, die grösser ist als die seiner Mitgliedsstaaten. Aber das entsprach keineswegs den Machtspielen der Staaten, die heute wie damals die Fäden in der Hand halten», sagt Rodogno.
Multilateralismus in Gefahr?
Der Historiker glaubt dennoch nicht, dass heute der Multilateralismus ernsthaft in Gefahr ist: «Wir sprechen oft von einer Krise des Multilateralismus. Aber es gibt viele Bereiche, in denen der Multilateralismus funktioniert, leise, ohne, dass das bemerkt wird. Und die UNO spielt weiterhin eine sehr wichtige Rolle. Sie hält ihr Prestige, ihre Autorität und ihre Legitimität aufrecht.»
Zwar agiert die UNO – wie auch der ihr Vorgänger, der Völkerbund – stets nur in den von ihren Mitgliedstaaten vereinbarten Räumen. Dennoch ermöglicht sie Fortschritte – ohne das Schlimmste immer verhindern zu können. Der vom Völkerbund angedachte Hochkommissar für Flüchtlinge wurde unter der UNO verwirklicht und die Internationale Arbeitsorganisation überlebte den Zweiten Weltkrieg, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Aber damals wie heute sind diese Organisationen vom guten Willen der Grossmächte abhängig. Und diese neigen stets dazu, die internationale Kooperation nach ihren Zielen und Interessen auszurichten. Und wenn – wie im Moment beobachtbar – die internationalen Spannungen zunehmen, geraten diese Institutionen ins Wanken.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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