Kann die Schweiz ihre Ideale in den UNO-Sicherheitsrat tragen?
In ihrer Kandidatur für einen temporären Sitz im UNO-Sicherheitsrat stellt die Schweiz die Menschenrechte ins Zentrum. Kann sie ihre Menschenrechtspolitik in das mächtigste UNO-Entscheidungsgremium hineintragen – Auge in Auge mit Russland und China? Die Erwartungen der Expert:innen sind geteilt.
Türen, die sich öffnen. Das Beziehungsnetz stärken. Partner für eigene Anliegen gewinnen. Den einen oder anderen Sitz in einem UNO-Gremium ergattern: Dies sind die realistischen Erwartungen eines Landes als nicht-ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat.
Wirklicher Einfluss auf die Agenda der UNO ist schon rein präventiv begrenzt – unter anderem durch das Vetorecht, das nur den fünf ständigen Mitgliedsländern zusteht, also den USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien.
Mutige Worte
So erscheint es mutig, dass die Schweiz, die für einen Einsitz für die Jahre 2023/24 kandidiert, in ihrem BewerbungsschreibenExterner Link die Menschenrechtspolitik ins Zentrum stellt. Wörtlich steht da – aus dem Englischen übersetzt: «Unsere Aussenpolitik wird von der festen Überzeugung geleitet, dass die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und die Verwirklichung der Menschenrechte für alle die Grundlagen für friedliche, wohlhabende und nachhaltige Gesellschaften sind.»
Mit diesem Video wirbt die Regierung für die Schweizer Kandidatur:
Die Wahl, die im Juni erfolgt, ist eine Formsache. Das Angebot, das die Schweiz im Rahmen ihrer Aussenpolitik international zum Glänzen bringen will, besteht aus Mediation in Konfliktfällen sowie aus Förderung des Friedens und demokratischen Grundprinzipien wie Machtteilung und Inklusion.
Kontinuität statt Bruch
«Es wird niemanden überraschen, auch nicht Russland, wenn die Schweiz im Sicherheitsrat die Positionen vertritt und verteidigt, für die sie international bekannt ist», sagt Fabien Merz, der am Center for Security Studies der ETH Zürich über schweizerische Aussen- und Sicherheitspolitik forscht.
Für ihre Werte werde die Schweiz auch im UNO-Sicherheitsrat einstehen können, ist er überzeugt: «Die Schweiz verfolgt traditionell eine unabhängige Aussenpolitik und ist dafür auch international bekannt. Dies dürfte sich mit einer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat nicht ändern.»
Zudem habe die Schweiz schon in der Vergangenheit Positionen ergreifen müssen, die einigen Grossmächten zuwidergelaufen seien, etwa als Mitglied des UNO-Menschenrechtsrates, dessen Sitz Genf ist.
«Alarmierender Backlash» gegen Zivilgesellschaft
Die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias von der Stiftung Swisspeace sieht im temporären Sitz der Schweiz am Tisch der Grossmächte Chancen. Sie hofft auf eine stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft ins höchste UNO-Gremium sowie eine Stärkung der feministischen Friedensförderung.
Bias hat über autoritäre Regimes geforscht und dabei festgestellt, dass die aktuelle Zunahme von Autoritarismus und Autokratismus jeweils zwingend mit Verletzungen von Menschenrechten einhergeht. Als Beispiel nennt sie einen – gescheiterten – Angriff Russlands im UNO-Sicherheitsrat gegen etablierte Frauenrechte.
In der UNO-Agenda «Frauen, Frieden und Sicherheit»Externer Link, die vor 21 Jahren lanciert wurde, wollte Russland den Schutz der Frauen gegen geschlechterspezifische Gewalt verwässern. Schutzwürdig hätte nur noch die Familie sein sollen, nicht mehr die Frau als Individuum.
Mehr
«Es ist beängstigend, dass diese Errungenschaften im höchsten Gremium ausgehöhlt werden sollten», sagt Bias und spricht von einem «alarmierenden Backlash». Die Schweiz müsse ihren Einsitz nutzen, um diese Probleme beim Namen zu nennen.
Menschliche Sicherheit auch im Inland
Mit Spannung erwartet die Schweizer Politologin insbesondere, ob und wie die Schweiz ihre Bemühungen im Bereich feministische Friedensförderung im Sicherheitsrat einbringen werde.
Sie nennt zudem das Thema menschliche Sicherheit, das in der Schweiz nur auf der globalen Agenda figuriere. «Aber menschliche Sicherheit ist auch ein innenpolitisches Thema, weil es Frauen und Minderheiten, aber auch strukturell Benachteiligte oder Menschen mit Behinderung betrifft.» Als Hebel sieht Bias den diesjährigen Co-Vorsitz der Schweiz der Ländergruppe zur Umsetzung der erwähnten UNO-Agenda (siehe Box).
In diesem Jahr hat die Schweiz zusammen mit Südafrika den Vorsitz im «Women, Peace and Security Focal Points Network»Externer Link (WPS).
Das Netzwerk unterstützt Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der UNO-Agenda «Frauen, Frieden und Sicherheit».
Die Co-Leitung könnte der Politik im eigenen Land Schub verleihen, sagt Politikwissenschaftlerin Leandra Bias. «Südafrika ist in dem Bereich weiter als die Schweiz, weil es eine progressivere und ambitionierte Haltung hat. Deshalb könnte der Co-Vorsitz die Schweiz auf diesem Terrain vorwärtsbringen», so Bias.
Die Co-Präsidentschaft ist mit zwei Jahrestreffen verbunden: Das erste findet im Frühling in Genf statt, das zweite im Herbst in Südafrika.
In einem Punkt hat sich die Schweizer Regierung für Bias schon vor der Wahl vorbildlich verhalten: Bern habe früh signalisiert, dass es die Mission in New York nicht als Alleingang bestreite, sondern in Abstimmung mit den Organisationen der Zivilgesellschaft. «Kanäle, die der Zivilgesellschaft eine Teilhabe ermöglichen, sind gerade heute sehr wertvoll,» sagt sie.
Schweiz muss Ratsentscheide schon heute mittragen
Chancen sieht auch Simon Hug, Professor am Institut für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen der Universität Genf: «Eine temporäre Mitgliedschaft im Sicherheitsrat würde es der Schweiz erlauben, dessen Entscheide besser mit ihren eigenen Interessen zu verknüpfen.»
Die Gestaltungsmöglichkeiten einer zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat seien nicht zu unterschätzen. Hug nennt das Vorschlagsrecht zu Resolutionen sowie formelle und informelle Wege, um Einfluss auszuüben.
Skeptikern, die sich etwa auf die Neutralität der Schweiz berufen, entgegnet Hug: «Auch als Nichtmitglied im Sicherheitsrat muss die Schweiz Entscheide mittragen, an denen sie nicht beteiligt war.»
Risiko von Gegenmassnahmen
Bei allem Optimismus der Expert:innen: Der langjährige Schweizer Diplomat Paul Widmer hält den geplanten Einsitz der Schweiz für falsch. Wenn sie im Sicherheitsrat Einsitz nehme, müsse die Schweiz sich oft für eine Seite entscheiden, sonst schwäche sie mit ihrer Stimmabstinenz das ohnehin schon schwache UNO-Organ. «Das aber entspricht nicht ihrer Rolle als Vermittlerin in internationalen Konflikten, sondern schwächt diese Rolle,» sagt Widmer.
Ergreife sie hingegen Partei, könnten ihr das einzelne Mitglieder übelnehmen und direkte oder indirekte Massnahmen gegen sie aussprechen, etwa im Bereich Wirtschaftsaustausch oder den Guten Diensten. Zudem gefährde sie die Rolle von Genf als internationaler Plattform der Diplomatie.
Konkrete Risiken sieht Widmer insbesondere auch für die humanitären Einsätze des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), das seinen Sitz in der Schweiz hat. «Eine Parteinahme könnte die Hilfeleistung des IKRK erschweren oder verunmöglichen.»
Mehr Spaltung in Schweizer Gesellschaft
Widmer befürchtet auch negative Auswirkungen gegen innen. «Zweifellos wird sich das Aussenministerium bemühen, die Entscheide im Sicherheitsrat innenpolitisch stark zu kommunizieren. Aber ich bin sicher, dass der Einsitz im Sicherheitsrat zu einer Vergrösserung der Spaltung im Inland führen wird. Und das hätten wir uns ersparen können.»
Sein Credo: Die Schweiz gehöre in die UNO, aber nicht in den Sicherheitsrat, in welchem ohnehin die fünf ständigen Vetomächte das Sagen haben. Sie gehöre in die Generalversammlung, die ein Beratungsorgan sei. «Dort kann die Schweiz ihre Stimme erheben und ihre Erfahrung einbringen. Denn ihre Aufgabe ist und bleibt, mit Diskretion als Vermittlerin zwischen den Nationen zu dienen.»
Der Sicherheitsrat ist das höchste und wichtigste Entscheidungsgremium der Vereinten Nationen. Er besteht aus den fünf ständigen Mitgliedern USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien, es sind dies die so genannten Vetomächste. Dazu kommen zehn nicht-ständige Mitglieder, die von der Generalversammlung für zwei Jahre gewählt werden.
Aus historischen Gründen verfügen die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – die Sieger des Zweiten Weltkrieges – über das Vetorecht. Sie können jeden Beschluss blockieren. Den nicht-ständigen Mitgliedern kommt deshalb eine wichtige Rolle als vermittelnde Stimmen zu, um eine verfahrene Situation aufzulösen.
Der Sicherheitsrat trägt gemäss UNO-Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens. Er kann Sanktionen verhängen oder eine militärische Intervention genehmigen, wenn die internationale Sicherheit gefährdet ist. Seine Beschlüsse sind für alle UNO-Mitgliedsstaaten völkerrechtlich bindend – dies im Unterschied zu Entscheidungen der Generalversammlung.
Die Schweiz kandidiert mit dem Slogan «Ein Plus für den Frieden» für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat für die Periode 2023/24. Der Bundesrat hat die Kandidatur im Jahr 2011 nach umfangreichen Konsultationen mit dem Parlament beschlossen und eingereicht.
Die Wahlen finden im Juni 2022 in New York statt. Wahlgremium ist die UNO-Generalversammlung mit 193 Ländern. Die Chancen für die Schweiz stehen gut, denn im Rennen um die zwei Sitze für die westlichen Staaten ist nebst der Schweiz nur Malta.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch