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Schweizer Föderalismus in Krisenzeiten – eine Geschichte zwischen Konflikt und Liebe

Vorbei die Zeiten der Meisterschaftspartien vor einer Handvoll handverlesener Fussballfans: Ab Oktober sind Grossanlässe mit über 1000 Personen wieder erlaubt. Sportfreaks, Konzertgängerinnen, Messebesucher etc. freuen sich. Doch die Kantone, die für den Schutz der Menschen vor dem Coronavirus verantwortlich sind, sind not amused. Peter Schneider/Keystone

Während der Coronakrise hat die Schweizer Regierung immer wieder mal die Kantone vor den Kopf gestossen. Die Ursache der innenpolitischen Reibungsverluste liegt im Föderalismus. Dies ist ein Versuch, ein komplexes Phänomen in seine Einzelteile zu zerlegen.

«Flickenteppich», «Bremsklotz», «Stresstest», «Pannen» oder gar «Chaos» und «Kakophonie»: Dies einige der Begriffe, die in den Medien-Kommentaren zu den Streitereien zu finden sind.

Die Coronakrise ist wie ein Brennglas, unter dem die guten oder schlechten Seiten überdeutlich zum Vorschein kommen. Das gilt auch für den Föderalismus.

Sommaruga als Fan

Unter dem Strich ist er ein grosser Segen, und das seit der Gründung der Schweiz. Zu den grössten Föderalismus-Fans im Land zählt… Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Sie bezeichnete ihn auch schon mal als «Herzensangelegenheit», die Nähe schaffe und Identität stifte.

Aktuell aber zeigt der Klassiker der demokratischen Machtteilung unverhohlen auch seine Schattenseiten.

Sommaruga wurde es jetzt zu viel: Sie bat die Vertreterinnen und Vertreter der 26 Kantonsregierungen diese Woche zum Krisengipfel nach Bern. Mit der Konferenz, an der auch Innenminister Alain Berset und von Wirtschaftsminister Guy Parmelin teilnahmen, wollte Sommaruga zwei Ziele erreichen: Zum einen den Zwist mit den Kantonen über die Öffnung der Grossevents beenden. Konkret heisst dies: Es müssen einheitliche Kriterien her, aufgrund derer die kantonalen Behörden die Bewilligung handhaben können.

Zum anderen strebt die Bundespräsidentin einen Krisen-Föderalismus an. Also einen Mechanismus, mit dem sich in künftigen Krisensituationen föderalistische Reibereien zwischen Bundesrat und Kantonen vermeiden lassen sollen. Die Schweiz zieht die Lehren aus Corona und bessert nach.

«Kein Krisengipfel»

Konkrete Lösungen hat der Gipfel nicht ergeben. «Wir haben uns heute mit den Kantonen getroffen für eine Aussprache», sagte Simonetta Sommaruga im Anschluss vor den Medien. Es habe sich nicht um einen Krisengipfel gehandelt. Ziel sei die Gewährleistung einer guten Zusammenarbeit, dann könnten alle gewinnen, so die Bundespräsidentin.

Christian Rathgeb, der Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen, sprach von einer Standortbestimmung zur Zusammenarbeit von Bund und Kantonen. Weitere Gespräche dürften folgen.

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Was ist Föderalismus?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht In der Schweiz ist die Staatsmacht auf drei Ebenen verteilt: den Bund, die 26 Kantone und die 2222 Gemeinden.

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Viel Konfusion

Seit der Ankunft des Coronavirus und dem Anfang des Kampfes gegen die Covid-19-Pandemie hat sich einiges angestaut. Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten gab es unter anderem zu diesen Punkten:

  • Schliessung von Landesgrenzen und Firmen;
  • Mangel beim Bund an Masken und Desinfektionsmittel;
  • Erfassung im Bundesamt für Gesundheit (BAG) der Fälle der Neuinfizierten und der Toten;
  • Kommunikation des BAG generell (Wirksamkeit von Schutzmasken, falsche Todesmeldungen etc.);
  • Ausgangsbeschränkungen für Ältere;
  • Zeitpunkt des Lockdowns und der Wiedereröffnung.

Aber was ist dieser Föderalismus genau, der in dieser Krisenphase Regierung und Kantone zu Gegenspielern macht, statt dass sie an einem Strick ziehen? Schliesslich geht es um den bestmöglichen Schutz der Bevölkerung.

Der Blick auf Wesen und Ziele des Föderalismus bringt eine Vielzahl von Aspekten ans Licht. Föderalismus ist:

  • der Mechanismus par excellence zur Machtteilung: Er schafft zur Zentralregierung das Gegengewicht der Kantone;
  • Garant der weitgehenden Autonomie der Kantone: Sie bezieht sich u. a. auf Wirtschafts- Kulturpolitik und Steuern, Bildung, Wahlen und Abstimmungen.
  • ein politischer Faktor: Die Kantone haben in den letzten Jahren ihren politischen Einfluss auf der eidgenössischen Bühne ausgebaut, insbesondere mit den interkantonalen Direktorenkonferenzen.
  • ein Instrument des Ausgleichs: Er sichert regionalen Behörden und politischen oder sprachlich-kulturellen Minderheiten politischen Einfluss. Die Zentralregierung kann mit ihren Entscheiden einzelne Regionen und Kantone nicht einfach «überfahren».
  • eine Echokammer der Divergenzen und Dissonanzen und gleichzeitig Plattform zur Moderation und Mediation: Er ist ein Mechanismus zur Vermeidung von Konflikten.
  • ein politisches Frühwarnsystem: Volksinitiativen auf kantonaler Ebene zeigen Bundesbern an, wo der Bevölkerung der Schuh drückt.
  • ein Hebel der Solidarität: Im schweizerischen Finanzausgleich unterstützen «reiche» und wirtschaftsstarke Kantone schwächere Wirtschaftsstandorte;
  • ein Instrument der Integration – als Garant für kulturelle Diversität und Identität.
  • ein Kanal der direkten Demokratie: Forderungen, die auf nationaler Ebene chancenlos sind, können «auf föderalem Weg», also via Volksinitiativen in den Kantonen, auf die nationale Agenda rücken.
  • ein Forschungsgebiet: seit über 50 Jahren existiert das Institut für Föderalismus an der Universität Freiburg. Die Gründung erfolgte durch die Kantone.
  • ein «Exportgut»: Expertinnen und Spezialisten aus der Schweiz beraten oft ausländische Regierungen und Organisationen punkto Knowhow und Best Practice in föderaler Staatsaufbau.

Föderalismus hat seinen Preis

Anstatt einer einzigen Lösung sind in der Schweiz 26 verschiedene Lösungen üblich. Wir sprechen dann – verharmlosend – von Kantönligeist.

Föderalismus hinkt hinter gesellschaftlichen Entwicklungen wie etwa der Mobilität her und verlangsamt das Tempo in der Politik.

Und er erschwert die Übersichtlichkeit. Das gilt nicht nur für uns Medienschaffende.

Das Fazit: Föderalismus ist ein gewollter, ständiger Herd von Widersprüchen und Konflikten, der die Kontrahenten permanent zum Austarieren ihrer Interessen zwingt.

Bewahrer der staatlichen Integrität der Schweiz

Dabei ist die Tendenz klar: Immer mehr Kompetenzen wandern von den Kantonen zum Bund. Dies deshalb, weil die Kantone dem Bund gern Aufgaben überantworten, die mit Kosten verbunden sind.

Umgekehrt aber entspricht es der föderalen Logik, dass die Kantone aufmucken, wenn ihnen der Bund Verantwortlichkeiten zuschanzt, die mit Kosten verbunden sind.

Trotz allem Ärger: In der Schweiz käme niemand auf die Idee, den Föderalismus abzuschaffen. Denn er ist der Mechanismus, der verhindert, dass sich in der heterogenen und multikulturellen Schweiz politische Zentrifugalkräfte entwickeln, die das Land auseinanderreissen könnten.

Der Föderalismus ist also nichts weniger als die grosse Klammer, welche die staatliche und diverse Integrität der Schweiz sichert.

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