Genf 1932: Die Schweizer Armee schiesst auf Schweizer Demonstranten
Im November 1932 eröffnen Rekruten in Genf das Feuer auf antifaschistische Demonstranten. Die traurige Bilanz: 13 Tote, 65 Verletzte. Die blutjungen Soldaten und die Befehlsgeber werden nicht belangt. Demgegenüber müssen sieben linke Aktivisten ins Gefängnis. Heute, 86 Jahre danach, hat das Schweizer Parlament einen Antrag auf Rehabilitierung der damals Verurteilten abgelehnt.
«Ein Schuss, tief halten, Feuer!» Raymond Burnat, Oberleutnant der Schweizer Armee, hat gerade der Truppe befohlen, in die Demonstranten zu schiessen.
Es ist der 9. November 1932 im Plainpalais-Quartier in Genf. Sofort stiebt die Menge auseinander. Auf dem Pflaster bleiben mehrere Körper leblos liegen. Das Schiessen in die Menge dauerte nur zwölf Sekunden, die Projektile aber töteten 13 Menschen und verletzten 65.
Das Blutbad ist das Ende einer Gegendemonstration der Genfer Linken. Aktivisten der Sozialistischen Partei unter der Leitung von Léon Nicole hatten sich mobilisiert, um gegen ein provokatives faschistisches Treffen unter dem Vorsitz des Rechtsextremisten Georges Oltramare zu protestieren.
Aus Angst um die öffentliche Ordnung ruft die Genfer Kantonsregierung die Armee zu Hilfe. Der Einsatz junger Rekruten und unerfahrener Offiziere, falsche Befehle und militärische Taktiken gegenüber den aufgeheizten, antimilitaristischen Demonstranten führten zu einer der schlimmsten Tragödien in der Geschichte des Bundesstaats Schweiz.
Gespaltene Gesellschaft
Aufsteigender Totalitarismus in Europa, Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit: In den 1930er-Jahren vergifteten starke Spannungen das politische Klima in Genf.
Dies zog sich auch nach den tragischen Ereignissen weiter. Nach einem Prozess vor Bundesgericht wurden im Mai 1933 die sieben Organisatoren der Gegendemonstration wegen Aufruhr verurteilt. Sie wanderten für vier bis sechs Monate ins Gefängnis.
Auf Seiten der Militärs, die in die Menge geschossen oder den Schiessbefehl erteilt hatten, wurde niemand belangt.
Hütet euch vor der Gewaltenteilung!
Der Kanton Genf wollte dieses Kapitel der Schweizer Geschichte nicht ruhen lassen. Er verlangt rund 86 Jahre später, dass die Schweiz die sieben damals Verurteilten rehabilitiert.
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Das Schweizer Parlament aber sieht dies anders: Der Nationalrat, die grosse Kammer, hat am Donnerstag den Antrag Genfs abgewiesen, die Urteile von 1933 zu kassieren. 113 stimmten dagegen, 54 waren für die Rehabilitierung. Vier enthielten sich der Stimme. Zuvor hatte sich schon der Ständerat, die kleine Kammer, gegen das Genfer Vorhaben ausgesprochen.
Die Ratsmehrheit, die aus dem rechten Lager stammt, begründete ihr Nein mit der Gewaltenteilung. Das Parlament sollte als Gesetzgeber Urteile der Justizbehörden nur mit äusserster Zurückhaltung aufheben, sagte der freisinnige Ständerat Thomas Hefti.
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Er vertrat die Auffassung, dass die Urteile von 1933 nach den Regeln des Rechtsstaats gefällt worden seien. Dabei hätten die Angeklagten Anspruch auf Verteidigung gehabt.
«Wir sollten ihnen ein Denkmal setzen»
Der Historiker Jean Batou, Autor eines Buchs über die tödlichen Schüsse von Genf, bedauert den Entscheid des Parlaments. Er erinnerte daran, dass diese Demonstranten mobilisiert waren, um die demokratischen Rechte angesichts eines Treffens der extremen Rechten zu verteidigen. Und das Ganze wenige Monate vor der Machtübernahme Hitlers in Deutschland.
«Wir sollten jenen Menschen danken und ein Denkmal setzen, die gegen den Aufstieg des Faschismus protestiert haben. Es geht nicht darum, die damaligen Richter zu verurteilen. Sondern aus heutiger Sicht anzuerkennen, dass diese Urteile im Lichte der Geschichte nicht legitim waren.»
«Unverhältnismässig»
Jean Batou weist auch auf die Unverhältnismässigkeit der Intervention der Armee einerseits und der Bestrafung der Demonstranten andererseits hin. Der Prozess habe eindeutig ergeben, dass die sozialistischen Aktivisten nicht die Absicht gehabt hätten, eine Revolution anzuzetteln, wie ihnen dies seitens der Genfer Rechten unterstellt worden war. Vielmehr hätten sich die Demonstranten den Befehlen der Polizei widersetzt.
«Diese Ergebnisse hätten das Gericht veranlassen sollen, die Gründe zu untersuchen, weshalb die Armee mobilisiert wurde und warum die Truppe das Feuer eröffnet hat», so der Historiker weiter. Doch das Gericht habe dies abgelehnt unter dem Verweis, dass für diese Abklärung die Militärjustiz zuständig sei.
Welle der Empörung im Ausland
Der Fall hat damals nicht nur die Menschen in der Schweiz schockiert, sondern auch im Ausland. «Genf wurde von der internationalen Presse verspottet», sagt Jean Batou. So schrieb eine britische Zeitung: «Ein Dutzend Bobbys (unbewaffnete Polizisten in Grossbritannien) hätten gereicht, um diese Demonstration zu kontrollieren».
«Selbst die portugiesische Presse – das Land stand damals unter der Diktatur Salazars – reagierte schockiert. Im Grunde genommen war es eine tragische ‹Genferei'», sagt der Historiker (eine Genfer Angelegenheit).
Der allgemeine Furor kam jedoch der Linken zugute: Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis übernahm Léon Nicole die Führung der Genfer Sozialistischen Partei und wurde zum Präsidenten der Kantonsregierung gewählt. Genf war somit der erste Kanton in der Schweiz mit einer linken Mehrheitsregierung.
An der Tragödie von Genf entzündete sich auch eine Diskussion über die Rolle der Armee bei ihrem Auftrag, bei Unruhen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sicherzustellen. Es ist dies eine Rolle, die sie theoretisch noch heute innehat.
(Übersetzung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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