«Schwierig, ein begeisterter Europäer zu sein»
Hier das Alpenland, dort eine Monarchie und ein EU-Mitglied. Wo lebt es sich besser? Hätte nicht die Wirtschaft in der EU die Oberhand über die Politik gewonnen, wäre die Antwort für den in Holland lebenden Schweizer Historiker Christoph Lüthy klar.
Die Niederlande und die Schweiz – zwei ähnliche Kleinstaaten in Europa mit vielen Gemeinsamkeiten, die aber einen unterschiedlichen politischen Weg eingeschlagen haben. Christoph Lüthy, ein profunder Kenner beider Länder, macht sich als Historiker Gedanken zum Schweizer Sonderweg.
swissinfo.ch: Wie sähe die Schweiz heute aus, wäre Deutschland im 2. Weltkrieg durch die Schweiz und nicht durch die Niederlande Richtung Frankreich vorgedrungen?
Christoph Lüthy: Es ist schwer vorstellbar, dass die Schweiz nach einer fünfjährigen Besetzung und der damit verbundenen Verarmung und Verwüstung der Infrastrukturen und einer inneren Zerreissprobe zwischen Mitläufern und deutschfeindlichen Eidgenossen ihre Zuflucht nicht in einem europäischen Haus gesucht hätte.
Umso mehr, weil der Vielvölkerstaat Schweiz sozusagen dazu prädestiniert war, als Keimzelle einer europäischen Union zu wirken.
swissinfo.ch: Beide Länder hatten bis 1940 viel Gemeinsames. Sind es eher die Gemeinsamkeiten oder überwiegen die Unterschiede?
C.L.: Das hängt davon ab, welche Aspekte man gewichten will. Die Niederlande vor 1940 kann man im Unterschied zur Schweiz als Monarchie, See- und Kolonialmacht beschreiben.
Man kann es aber auch als deutschsprachige Abspaltung aus dem deutschen Reich betrachten, die gleichzeitig mit der Schweiz 1648 souverän wurde, eine konfessionell ähnlich gemischte föderal-republikanische Struktur aufwies, durch Napoleon erobert worden ist und bis zum 2. Weltkrieg eine vergleichbare Politik der Völkerverständigung betrieben hat.
swissinfo.ch: In der Schweiz, scheint es, werden eher die Unterschiede betont, besonders die EU-Mitgliedschaft der Niederlande.
C.L.: Zur Zeit wird leider in ganz Europa wieder vermehrt über nationale Unterschiede geredet und das Gemeinsame übersehen. Diese Entwicklung scheint mir für das ganze europäische Projekt, das über den institutionellen Rahmen der EU hinausgeht, sehr gefährlich.
Im Verhältnis der Schweiz mit den Niederlanden sind die Unterschiede in den letzten 60 Jahren grösser geworden: Die Niederlande sind kein neutrales Land mehr, sie gehören zu den Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft und verstanden sich bis vor ein paar Jahren als pro-europäisch.
Allerdings gleichen die Klagen über die EU, die man in den letzten Jahren in den Niederlanden vernommen hat, denjenigen, die man in der Schweiz hört. Die Partei von Geert Wilders, die PVV, hat auch wiederholt und ausdrückliche Sympathien für die SVP geäussert. Man entdeckt sich in gewisser Hinsicht wieder.
swissinfo.ch: Wenn die beiden Länder sich den Spiegel vorhalten als Beispiel eines ähnlichen Landes, das inner- oder ausserhalb der EU steht, werden eher die Vor- oder die Nachteile erwähnt?
C.L.: Ich glaube nicht, dass sich die Schweiz häufig einen holländischen Spiegel vorhält; umgekehrt geschieht dies eher.
Früher war es die liberale Partei D’66, welche die Schweizer Staatsform, ihre dezentralen Entscheidungsvorgänge und die Möglichkeit von Referenden und Initiativen als Modell betrachtete. Heute ist es die PVV, die in Referendum und Initiative eine Möglichkeit populistischer Meinungsäusserung sieht. Gerade das Minarett-Verbot hat hier grossen Eindruck gemacht.
swissinfo.ch: Paradoxerweise sind die Samen zur Entstehung der EU zum Teil auch in der Schweiz gesät worden. Weshalb ist in der Schweiz nichts daraus gewachsen?
C.L.: Vertreter verschiedener nationaler Widerstandsverbände planten in der Schweiz bereits 1944 eine Europäische Union; Winston Churchill hat seinen Vorschlag einer europäischen Struktur 1946 an der Universität Zürich vorgetragen; und Graf Coudenhove-Kalergi hat die von ihm gegründete Europäische Parlamentarier-Union 1949 in Gstaad tagen lassen.
Das Paradox besteht jedoch nicht darin, dass diese Samen in der Schweiz gesät worden sind, denn diese Rolle passte durchaus zur Schweizer Tradition. Das Paradox besteht darin, dass diese Samen in der Schweiz nach dem 2. Weltkrieg nicht wachsen konnten.
Die Verschonung im Krieg hat zu einem selbstgerechten Inselbewusstsein geführt und zu einem Klima, in dem man sich nicht nur aus den Händeln der Nachbarn, sondern auch aus der Idee einer gemeinschaftlichen Verantwortung heraushalten wollte.
swissinfo.ch: Ist diese «Splendid Isolation» der Schweiz gegenüber der EU ein Irrglaube? Oder hat das Land gute Gründe dafür?
C.L.: Wenn ich hier den Philosophen-Jargon benutzen darf: Kausal gesehen hat die Schweiz gute historische Gründe für ihren Sonderweg. Ob diese Gründe auch zweckmässig waren, ist schwieriger zu sagen.
Leider ist das europäische Projekt von Anfang an ökonomisch aufgezogen worden, über Montan-Union und Zollfreiheiten, usw. Aus ökonomischer Sicht hat die reiche Schweiz stets wenig Gründe gesehen, um den entstehenden europäischen Strukturen beizutreten, obwohl sie natürlich in den letzten Jahren über Bilaterale Abkommen die Vorteile des Wirtschaftsraumes zu einem grossen Teil übernommen hat.
Doch die Irrwege, die eingeschlagen werden, wenn der Wirtschaft und nicht der Politik die Vorreiterrolle im europäischen Einigungswerk zugeteilt wird, können dieser Tage am Debakel der Einheitswährung studiert werden. Aus dieser Sicht ist es – leider, muss ich sagen – noch immer schwierig, als Schweizer ein begeisterter Europäer zu sein.
swissinfo.ch: Sie haben in beiden Ländern gelebt. Lebt es sich besser in oder ausserhalb der EU?
C.L.: Ich möchte dieser Frage eigentlich am liebsten ausweichen. Ich würde nämlich gerne in einer Europäischen Union leben, die aus einem gemeinsamen, im Volk breit abgestützten Bewusstsein einer geographischen und historischen Gemeinschaftlichkeit entstanden ist.
Ich würde gerne sagen können, dass es zu bevorzugen ist, im grossen Kulturraum der Europäischen Union zu leben statt in einer in sich gekehrten Schweiz. Doch diese Antwort kann ich aus den bereits genannten Gründen zu meinem eigenen Leidwesen nicht geben – in diesem Jahr noch weniger als je zuvor.
Der Professor für Wissenschafts-Geschichte lehrt an der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen.
Er lebt seit 14 Jahren in den Niederlanden. Zuvor hatte er in der Schweiz, in England, den USA, Deutschland und Italien studiert, doktoriert und als Postdoktorand gearbeitet.
Ihn interessieren besonders philosophische Fragen im Zusammenhang mit dem Entstehen der modernen Naturwissenschaften.
Laut Christoph Lüthy haben die beiden Staaten um die vorletzte Jahrhundertwende herum ihre Rolle in der Verbindung von Neutralität und engagierter Friedenspolitik gefunden.
«In der Machtkonstellation des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinen grossen Bündnissen und Achsen waren die kleinen neutralen Staaten eigentlich bedeutungslos», so Lüthy.
«Man hätte sich damit abfinden können, wenn die grossen Nachbarn weniger expansiv gewesen wären.»
«Als der russische Zar vorschlug, die internationalen Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in Den Haag abzuhalten und sich als Folge davon der Ständige Schiedshof im Haager Friedenspalast festigte, gab dies den Niederlanden die Möglichkeit, aussenpolitisch eine neue Rolle zu spielen.»
«Etwas Ähnliches war 30 Jahre vorher bereits in der Schweiz geschehen, dank der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und der Unterzeichnung der Genfer Konventionen. Zudem hat sich die Schweiz nach dem 1. Weltkrieg in einer Volksabstimmung knapp dafür entschieden, dem Völkerbund beizutreten, der sich ebenfalls in Genf festigte.»
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