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Souveränität und EU-Marktzugang – Schweiz und Grossbritannien wollen beides

Michael Ambühl

Nachdem Grossbritannien ein umstrittenes Gesetz über den Binnenmarkt veröffentlicht hat, wird ein harter Brexit immer wahrscheinlicher. Und in der Schweiz gilt das geplante Rahmenabkommen mit der EU mancherorts bereits als Makulatur. Der ehemalige EU-Chefunterhändler, Michael Ambühl, über die heikle Frage der Souveränität in den EU-Gesprächen.

Die britische Regierung will mit der «Internal Market Bill» die Macht Brüssels auf britischem Territorium einschränken. Die EU soll, so die Idee der Briten, weniger Regulierungen am britischen Heimmarkt durchsetzen können. Wie viel Eingriffe vom Festland noch in Ordnung sind und wie viel Zugang zum EU-Markt Grossbritannien im Gegenzug erhält, ist während der laufenden Brexit-Verhandlungen in den Vordergrund gerückt.

Der derzeit diskutierte Gesetzentwurf würde (falls er angenommen wird) auch gegen das Völkerrecht verstossen – aber das ist eine andere Geschichte.

Auch die Schweiz und die EU verhandeln derzeit über ein Rahmenabkommen, das die institutionellen Fragen der bilateralen Verträge regeln soll. Dabei steht ebenfalls die Frage des Ausgleichs zwischen Souveränität und Marktzugang im Vordergrund.

Sind die beiden Fälle – Grossbritannien und die Schweiz – vergleichbar? Die Antwort lautet ja und nein. Auf der einen Seite gibt es deutliche Unterschiede zwischen der schweizerischen und der britischen Situation: Erstens beeinflusst die Grösse der beiden Länder die Verhandlungsmacht. Zweitens beeinflusst ihre Geschichte (Imperium versus Binnenland) das Selbstverständnis der jeweiligen politischen Akteure. Und drittens schafft die institutionelle Integration (Mitgliedstaat versus Nichtmitgliedstaat) eine unterschiedliche Ausgangslage für die Verhandlungen.

Auf der anderen Seite haben die Schweiz und Grossbritannien Gemeinsamkeiten: Erstens einen «Souveränitätsreflex». Damit meine ich eine Einstellung (oder Auffassung) zur Regierungsführung, die es – vorbehaltlich völkerrechtlicher und politischer Zwänge – erlaubt, Entscheidungen in selbstbestimmter Weise zu treffen. Zweitens einen Freihandelsgeist, der dem freien Markt grössere Bedeutung beimisst als es beispielsweise die Mittelmeerländer tun. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist drittens die Absicht, eine gut funktionierende Zusammenarbeit mit ihrem wichtigsten Partner, der EU, zu haben, aber als Aussenstehender. Dieser letzte Punkt macht es interessant, die bilateralen Verhandlungen zu vergleichen.

Am 28. Oktober moderiert swissinfo.ch eine hochrangige Podiumsdiskussion mit dem Titel «Beyond Brexit – The Future of Commerce» über die Auswirkungen des Brexits auf den Handel mit der Schweiz. Die Veranstaltung findet in Zürich statt und wird von der Britisch-Schweizerischen Handelskammer live übertragen.

Das Panel besteht aus Andrea Maechler, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Nationalbank, Liam Fox, ehemaliger britischer Handelsminister, Fiona Carlin, CEO von Baker McKenzie EMEA, und Michael Ambühl, ehemaliger EU-Chefunterhändler der Schweiz.

Es wird bald zwei grosse europäische Finanzmächte ausserhalb der EU geben, die gemeinsame wirtschaftliche Interessen auf der globalen Bühne haben. Wird dies zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Grossbritannien führen, und wenn ja, welche Auswirkungen wird dies auf die beiden Länder, den Rest Europas und die Welt haben?

Brüssel will die Einheitlichkeit und Integrität seines Binnenmarkts mit zwei Hauptmassnahmen schützen: So genannten «level playing field»-Regeln (faire Wettbewerbsbedingungen), die den Marktzugang von Waren und Dienstleistungen definieren, sowie eine effiziente Streitbeilegung. Dies hat die EU von London und Bern gefordert.

Brüssel will eine Politik des Rosinenpickens verhindern, bei der die beiden Länder vom grossen EU-Binnenmarkt profitieren, ohne die gleichen Verpflichtungen wie die Mitgliedstaaten zu haben. So weit so gut. Allerdings ergeben sich aus diesen Forderungen zwei Hauptprobleme.

Erstens: Wenn Drittländer künftige EU-Vorschriften übernehmen, deren Inhalt noch nicht bekannt ist, so ist das ein Souveränitätsproblem. Zwei Aspekte müssen dabei berücksichtigt werden. Die Regelung gilt a) nur für einen genau definierten Bereich (das entsprechende bilaterale Abkommen), was den Umfang dieser Massnahme begrenzt. Und b) haben Grossbritannien, die Schweiz und die EU gemeinsame Ansichten bezüglich der Rahmenbedingungen – daher könnten die möglichen Unterschiede keine wesentlichen Auswirkungen haben.

Dieser pragmatische Ansatz sollte durch eine Opt-out-Regelung ergänzt werden, die es der Drittpartei (Grossbritannien oder der Schweiz) erlaubt, in bestimmten vordefinierten Bereichen abzuweichen, wenn lebenswichtige Interessen betroffen sind. In den Brexit-Verhandlungen konzentriert sich das «level playing field»-Problem auf die Regeln für staatliche Beihilfen. Im Falle der Schweiz ist die die Thematik breiter, da sie die Regeln aller Marktzugangsabkommen betrifft.

Ein zweites Problem betrifft den Mechanismus, wie Streitigkeiten beigelegt werden. Brüssel fordert, dass ein mögliches Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof um eine verbindliche Entscheidung bitten muss, bevor es einen Schiedsspruch trifft. Auch das stellt ein potentielles Problem dar, da das Hauptkonzept eines Schiedsgerichts – seine Unabhängigkeit – untergraben wird. Aber auch hier liegen bereits pragmatische Lösungen auf dem Tisch.

Doch was tun, wenn die Verhandlungen blockiert sind? Die Erfahrung zeigt, dass eine Partei nur dann gut verhandeln kann, wenn sie den Verhandlungstisch jederzeit verlassen kann – oder anders ausgedrückt: Wenn sie eine «Best Alternative To a Negotiated Agreement» (beste Alternative zur Verhandlungsübereinkunft) hat.

Was steht auf dem Spiel, wenn eine Partei (zumindest vorübergehend) kein Abkommen abschliesst? Brüssel würde weniger verlieren als London oder Bern, weil die EU weniger abhängig von guten Beziehungen zu den beiden kleineren Parteien ist als umgekehrt.

Es gibt jedoch einen interessanten Unterschied zwischen Bern und London. Zweifellos hat Grossbritannien aufgrund seiner demographischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht normalerweise eine grössere Verhandlungsmacht als die Schweiz. Im konkreten Fall dieser Verhandlungen ist es jedoch eher das Gegenteil.

Wenn die Verhandlungen zwischen London und Brüssel scheitern, hat Grossbritannien keinen Marktzugang, ausser über das WTO-Handelssystem (das für alle WTO-Mitglieder eine Selbstverständlichkeit ist). Im Falle der Schweiz bestehen die 120 bilateralen Abkommen weiter, auch wenn beim Rahmenabkommen keine Einigung gefunden werden kann.

Sicherlich wäre es – aus verschiedenen Gründen – schöner, ein «aufgewertetes» bilaterales Abkommenssystem zu haben, aber der Marktzugang über die bestehenden Abkommen würde weiterhin bestehen. Die EU könnte diese zwar kündigen, was aber eher unwahrscheinlich erscheint, da auch die EU ganz erheblich von den bilateralen Abkommen mit der Schweiz profitiert.

Abschliessend: Lassen Sie uns hoffen, dass diese Überlegungen akademisch bleiben und dass die Parteien gegenseitig zufriedenstellende Lösungen finden. Mit etwas Kreativität und gutem Willen auf allen Seiten sollte dies möglich sein.

Michael Ambühl hatte eine beachtliche diplomatische Laufbahn hinter sich, bevor er 2013 zum Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement an die Eidgenössische Technische Hochschule ETH in Zürich berufen wurde.

Er war massgeblich an der Aushandlung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU beteiligt, die eine Reihe von Themen abdecken, von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer über Verkehr, Umwelt, Renten, Betrugsbekämpfung bis hin zur Bildung.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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