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Die Verletzlichkeit der Demokratie

Swissinfo Redaktion

Die Demokratie ist verletzlich, heute sogar krank. In den westlichen Ländern stimmt und wählt nur einer von drei Jugendlichen, und der Populismus ist in den stabilsten Ländern im Aufwind.

Die junge Demokratie in Tunesien müht sich ab. Der Satz einer doch recht progressiven tunesischen Freundin, ausgesprochen mit einem besorgten Blick, hat mich wachgerüttelt: «Vielleicht ist die Demokratie für uns nicht gut. Vorher hatten wir weniger Terrorismus, und der Wirtschaft ging es besser.» Worte, die unseren westlichen Ohren wehtun, uns, die wir blind überzeugt sind, dass der Demokratisierungsprozess unumkehrbar ist.

In diesem schwierigen Umfeld fand am 8. Oktober das zweite Treffen zwischen französischen, tunesischen und schweizerischen Frauen statt. Es wurde auf Einladung der tunesischen Parlamentsabgeordneten Zohra Driss in einem Hotel in Sousse, Tunesien, durchgeführt.

Es war das gleiche Hotel, das vor drei Jahren von Terroristen angegriffen worden war. Die Demokratie, die Schwierigkeiten der Transition und die terroristische Bedrohung waren in den Diskussionen omnipräsent.

Anja Wyden Guelpa
Anja Wyden Guelpa war von 2009 bis 2018 Staatskanzlerin des Kantons Genf. Als Gründerin der Ideenschmiede «civicLab» arbeitet sie derzeit als unabhängiges Mitglied in verschiedenen Stiftungsräten, die sich für die Förderung der Demokratie mit den Schwerpunkten Jugendengagement und «Civictech» einsetzen. Nicolas Schöpfer

Frauen aus den drei frankophonen Ländern debattierten über Demokratie, Bildung und Sicherheit. Die Aktivistin, Abgeordnete und Präsidentin der Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichstellung, Bochra Bel Haj Hmida, zeichnete ein nüchternes Bild der Situation, was die Demokratie und die Freiheit in Tunesien seit der Revolution betrifft.

Homosexuelle können weiterhin verfolgt werden. Mädchen erben immer noch weniger von ihren Eltern als ihre Brüder. Frauen ist es, im Gegensatz zu den Männern, nicht erlaubt, einen Nicht-Muslim zu heiraten. Und Behinderte kämpfen weiterhin darum, ihre Rechte durchzusetzen.

Die Geschäftsfrau Neila Benzima, wie auch die Genetik-Professorin Habbiba Bouhamed Chaabouni und die Abgeordnete Leyla Hamrouni betonten die Bedeutung von Kultur und Bildung, namentlich für Mädchen, bei der Bekämpfung der Aufklärungsfeindlichkeit und der Konsolidierung der verletzlichen, aufstrebenden Demokratie.

Julia Maris, eine Sicherheits-Spezialistin, betonte, die Debatte über die Sicherheit dürfe nicht allein den Männern überlassen werden, da sie eng mit der aktiven politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger verbunden sei. Ich selber habe auf die Gefahren und Chancen der Digitalisierung der Demokratie hingewiesen. Schliesslich sprach der Forscher Yascha Monk über das Risiko, dass wir in eine Ära der Entkonsolidierung der Demokratie eintreten.

Die Diskussion zwischen Frauen übers Mittelmeer hinweg begann 2016 am CEO-Dialog des «Global Women’s Forum»Externer Link in Dubai. Damals stellte die Generaldirektorin des Forums, Jacqueline Franjou, Amina Bouzguenda Zeghal, Direktorin der Dauphine-Universität in Tunis, und mich, damals Staatskanzlerin des Kantons Genf, der Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, vor. Wir verstanden uns von Anfang an, und seither sind mehrere Projekte daraus entstanden.

Im gleichen Jahr wählten wir an der zweiten Ausgabe der Demokratie-Woche in Genf Tunesien als Ehrengast aus. Um den 15. September herum, den internationalen Tag der Demokratie, setzten 6 von 45 Veranstaltungen den Fokus auf Tunesien.

Darunter eine Ausstellung an der UNO über Demokratie, wo sich die tunesische und die schweizerische Demokratie gegenüberstehen, und Debatten mit der Abgeordneten Bochra Bel Haj Hmida. An einer VeranstaltungExterner Link trafen sich nach mehreren Monaten Vorbereitungszeit Studierende aus Tunis mit solchen der Universität Genf, um über vier Themen zu diskutieren:

  • Wie können Tradition und Moderne in Einklang gebracht werden?
  • Welche Rolle soll die Zivilgesellschaft spielen? Welchen Platz nimmt die Frau im Tunesien nach der Revolution ein?
  • Demokratische Herausforderungen der neuen Sicherheitspraxis
  • Bildung, Demokratie und Trennung von Kirche und Staat

Die Debatte der Studierenden war lebhaft, intensiv und frei von jeglicher Bevormundung. Die zu erteilenden Lektionen kamen nicht unbedingt von jenen, von denen man es erwartet hatte. So hatten die Tunesierinnen nicht nur 15 Jahre vor den Schweizerinnen bereits das Stimm- und Wahlrecht.

Die an der Debatte anwesenden Schweizerinnen und Schweizer verfolgten auch mit Interesse die Erläuterungen zu den Erfahrungen mit der transparenten Online-Budgetierung, die in einer tunesischen Gemeinde angewendet wird.

«Die Demokratie ist verletzlich, so verletzlich wie ein Gefühl der Liebe.» Anja Wyden-Guelpa

Seither hat der Demokratie-Dialog zwischen französischen, tunesischen und schweizerischen Frauen nicht aufgehört. Daraus entstand sogar ein künstlerisches Projekt, das Künstlerinnen und Künstler aus den drei Ländern für drei Wochen auf den Kerkennah-Inseln vor Sfax zusammenführte. In der Folge fand eine Ausstellung im Bardo-MuseumExterner Link statt, das vor drei Jahren ebenfalls von einem tödlichen Terroranschlag betroffen war.

Nach zahlreichen informellen Treffen in Paris, Tunis und Genf ging diesen Frühling eine Delegation tunesischer Frauen auf Einladung von Jacqueline de Guillenchmidt, Präsidentin von «Femmes Forum» und der französischen Delegation, nach Paris.

Der Austausch war bereichernd, und der Gipfel der Frauen aus Tunesien, Frankreich und der Schweiz wird zu einem jährlichen Ereignis. Eine Annäherung an die internationale Organisation der Frankophonie ist geplant. Deren nächster Gipfel wird im November 2020 im tunesischen Sousse stattfinden.

Nachdem im letzten Oktober eine junge Selbstmord-Attentäterin mehr als 20 Personen verletzt hat, verstärkte sich der digitale Austausch zwischen den Teilnehmerinnen noch.

Die Demokratie ist verletzlich, so verletzlich wie ein Gefühl der Liebe. Es ist schwierig, das perfekte Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Erwartungen und Anziehungskräften zu finden, und sie ist sehr einfach zu zerstören. Doch die Demokratie lohnt die Mühe. Die tunesischen, französischen und schweizerischen Frauen sind entschlossen, für Demokratie und Bildung zu kämpfen. Es geht darum, ein Beispiel zu geben, damit es für die Folgegenerationen etwas weniger schwierig wird.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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