Männer doppelt so häufig an Gemeindeversammlungen
Anders als bei Urnenabstimmungen beteiligen sich unterschiedliche soziale Schichten gleichermassen an Gemeindeversammlungen. Dafür offenbaren sich bei der Versammlungsdemokratie ausgeprägte Geschlechter-Unterschiede. Dies ergab ein Vergleich der individuellen Beteiligung an Urnen- und Gemeindeversammlungs-Entscheiden in der Berner Gemeinde Bolligen.
Die Versammlungsdemokratie ist das wohl radikalste Element der direkten Demokratie. In der Schweiz ist sie in der Form der Gemeindeversammlung oder auf kantonaler Ebene der Landsgemeinden in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus anzutreffen.
Vergleicht man die Versammlungsdemokratie auf lokaler Ebene mit der Stimmabgabe an der Urne, stellt man fest, dass beide Arten der Stimmabgabe unterschiedliche, spezifische Teile der Stimmbevölkerung ansprechen. Individuelle Charakteristiken wie sozialer Status, Alter und Geschlecht scheinen dabei für die Teilnahme an der Urne und an Gemeindeversammlungen eine unterschiedliche zu Rolle spielen.
DeFacto-Beiträge auf swissinfo.ch
Dieser BeitragExterner Link von Isabelle Stadelmann-SteffenExterner Link und Clau DermontExterner Link ist erstmals am 21. Dezember 2015 auf der neuen Plattform «DeFacto – belegt, was andere meinenExterner Link» erschienen.
Die Originalfassung ihres Artikels «How exclusive is assembly democracy? Citizens’ assembly and ballot participation comparedExterner Link» erschien am 20. November 2015 in der Swiss Political Science Review.
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Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) finanziert das Projekt für die ersten zwei Jahre.
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Somit sind gewisse Interessen – beispielsweise der jungen Generation, der Frauen oder von wenig Verdienenden – in der einen oder anderen Form der demokratischen Entscheidungsfindung stärker (unter-)vertreten.
Interessen der wenig Verdienenden stärker vertreten
Der Vergleich ergab, dass die Beteiligung an Gemeinde-Versammlungen deutlich weniger vom Einkommen abhängt, als dies klassischerweise bei Urnenentscheiden zu beobachten ist, wo die politische Partizipation typischerweise mit dem Einkommen steigt. Gut Verdienende sind also in der Versammlungsdemokratie weniger präsent, als dies an der Urne der Fall ist.
Die Gemeindeversammlung stellt gerade für untere soziale Schichten eine relativ attraktive Form der Beteiligung dar. Einerseits lässt sich dies mit der kondensierten und «kostenlosen» Informationsvermittlung an Gemeindeversammlungen erklären.
Hinzu kommt, dass gerade die Arbeiter- und Mittelklasse oft besser über lokale Themen, die an Gemeindeversammlungen zur Debatte stehen, informiert sind als obere soziale Schichten.
Verhandeln eher Männersache
Während Einkommensunterschiede für die Beteiligung an Gemeindeversammlungen weniger ausschlaggebend sind, fällt dafür das Geschlecht weitaus stärker ins Gewicht.
Der Vergleich zwischen Urnen- und Versammlungsdemokratie deckt nämlich ausgeprägte Geschlechterunterschiede auf: Im Gegensatz zur Stimmabgabe an der Urne beteiligen sich Männer rund doppelt so häufig an Gemeindeversammlungen wie Frauen. Das Ausmass des sogenannten «Gender gaps» ist damit deutlich grösser als er je für (nationale) Wahlen rapportiert wurde.
Begründen lässt sich dies einerseits damit, dass der hohe Zeitaufwand für den Besuch der Gemeindeversammlung Frauen stärker von einer Beteiligung abhalten dürfte als Männer. Andererseits weisen verschiedene Studien darauf hin, dass die deliberative Natur der Partizipation in Gemeindeversammlungen mit ausgeprägteren Geschlechterunterschieden verbunden ist.
Deliberative Demokratie
Auf Grund der niedrigen Beteiligungsraten wird von manchen die Legitimität von Gemeindeversammlungen in Frage gestellt. Unser zentrales Argument baut hingegen darauf auf, dass der Versammlungsdemokratie im Vergleich zur Urnendemokratie eine fundamental unterschiedliche Logik zu Grunde liegt.
Gemeindeversammlungen kommen dem Ideal der deliberativen Demokratie am nächsten, wobei Bürgerinnen und Bürger Entscheide auf Basis von in einer Diskussion geäusserten Argumenten fällen.
Dieses Demokratieverständnis impliziert auch, dass die Qualität der Entscheide vor allem davon abhängt, ob vorgängig eine deliberative Diskussion unter Einbezug verschiedener Präferenzen und Argumente stattgefunden hat.
Es spielt also weniger eine Rolle, wie viele an politischen Entscheiden teilnehmen, sondern wer sich mit welchen Interessen beteiligt.
Relikt der «Männer im Ring»
Unser Beitrag unterstützt die Sichtweise, dass Gemeindeversammlungen nicht nur durch eine niedrigere Beteiligungsrate, sondern auch durch eine spezifische Zusammensetzung der Wählerschaft gekennzeichnet sind.
Auf der einen Seite können Gemeindeversammlungen als ein Überbleibsel einer traditionellen von Männern mittleren Alters dominierten Demokratie betrachtet werden.
Mit Fokus auf den sozialen Status erweisen sich Gemeindeversammlungen im Vergleich zu Urnenentscheiden jedoch als «gleicher». In diesem Sinne führen die präsentierten Analysen zum Schluss, dass die theoretisch diskutierten Unterschiede in der demokratischen Logik, die hinter der jeweiligen Entscheidungsform steht, in der Realität Wirkung zeigen.
Sie führen dazu, dass nicht nur beide Arten des politischen Einbezugs von Bürgerinnen und Bürgern zu einem gewissen Grad exklusiv und inklusiv sind, sondern dass sie je unterschiedliche, spezifische Teile der Stimmbevölkerung ansprechen.
Für zukünftige Forschung stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob diese Differenzen ebenso das Resultat der getroffenen Entscheide beeinflussen, sprich: ob sich Urnen- und Versammlungsdemokratie auch im Hinblick auf die politischen Inhalte und die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger unterscheiden.
Die in diesem Artikel ausgedrückten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autoren und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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