Steuergeschenke an Unternehmen bald ausgeträumt?
Die Finanzaufsicht des Bundes verurteilt grosszügige Steuerrabatte für Unternehmen, die unter dem Vorwand der regionalen Wirtschaftsförderung 2007 für eine fünfjährige Dauer gewährt wurden. 2012 wird es zu härteren Verhandlungen kommen.
Grosse Aufregung Anfang Februar in der französischsprachigen Schweiz: Die Medien kündigen einen Prüfbericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK), des obersten Finanzaufsichtsorgans des Bundes, an und schreiben, dass 2007 23 Milliarden Franken Gewinn von ausländischen Firmen nicht versteuert wurden. Davon allein 70% im Kanton Waadt!
In Wirklichkeit sind diese Zahlen nicht neu. Man findet sie in einem ersten Bericht der EFK vom November 2010. Aber wer liest die Berichte dieser Behörde?
Gewisse Parlamentarier schon: Im April 2011 reichte der sozialdemokratische Nationalrat Carlo Sommaruga eine Motion ein, in der eine Begrenzung dieser Steuergeschenke verlangt wurde, vor allem bei multinationalen Konzernen, die sich in der Schweiz niederlassen. Die Motion war erfolglos.
Mit der Zeit haben sich die Regeln geändert. Bis 2007 galt in der Schweiz der «Beschluss zugunsten wirtschaftlicher Erneuerungsgebiete», der sogenannte «Bonny-Beschluss», nach dem Namen des damaligen Direktors des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga), des heutigen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Jean-Pierre Bonny.
Die Idee geht auf die Krise der Schweizer Uhrenindustrie in den 1970er-Jahren zurück. Damals verlor der Jurabogen 60’000 Arbeitsplätze. Ein erster «Bonny-Beschluss» wurde 1978 erlassen, 1995 folgte ein zweiter.
28% der Schweizer Bevölkerung lebten zu jener Zeit in «wirtschaftlichen Erneuerungsgebieten». Diese umfassten einen grossen Teil der lateinischen und alpinen Schweiz sowie einige Regionen in der Ostschweiz.
«Profitieren Sie, es sind die letzten…»
Um in den Genuss eines Steuerrabatts zu kommen, genügte es nicht, in einer dieser Gemeinden einfach ein Büro zu eröffnen. Bedingung war, dass das Unternehmen produziert, dass es innovativ ist und einen starken Mehrwert für die Wirtschaft der Region erbringt.
Die Erleichterungen betrafen die Gewinnsteuer, die der Gemeinde, dem Kanton und dem Bund zu entrichten sind. Der Antrag auf eine solche Steuererleichterung wird vom Seco geprüft, das wenn nötig mit dem Kanton verhandelt. Das letzte Wort hat der Wirtschaftsminister.
2007 unterzeichnete die damalige Wirtschaftsministerin Doris Leuthard 91 Entscheide für eine Erleichterung der direkten Bundessteuer, doppelt so viele wie im Vorjahr. Es war das letzte Jahr, in dem der «Bonny-Beschluss» noch Gültigkeit hatte. Die Wirtschaftsförderungsstellen der Kantone haben buchstäblich doppelt so schnell gearbeitet, um möglichst viele Unternehmen anzulocken.
Zu welchem Preis? Der am 10. Februar 2012 publizierte Prüfbericht der EFK wirft ein schonungsloses Licht auf diese bis anhin sehr diskreten Praktiken.
Von 75 Millionen bis zu fast 2 Milliarden
«Wir haben erhebliche Lücken in Sachen Beaufsichtigung aufgezeigt», sagt EFK-Vizedirektor Michel Huissoud gegenüber swissinfo.ch. «Und vor allem haben wir diesen ganzen Bereich beleuchtet, der eigentlich ein Tabu war. Denn die Summe der nicht eingenommenen Steuern sieht man nirgendwo in den Rechnungen.»
Nach einer Schätzung ist 2007 allein der Bundeskasse über eine Milliarde Franken entgangen. «Diese Summen sind starken Schwankungen unterworfen», präzisiert Huissoud.
«Uns hat aber schockiert, dass man im Bericht der Eidgenössischen Steuerverwaltung über die Steuererleichterungen zuhanden des Parlamentes vom Dezember 2010 von 75 Millionen spricht, was nicht ganz dasselbe ist…»
Die EFK empfiehlt, in Zukunft diese Zahlen systematisch zu publizieren. «Für uns sind diese Steuererleichterungen eine Subvention für die Wirtschaftsförderung», sagt der EFK-Vizedirektor. «Sie sollten deshalb in den Rechnungen erwähnt werden, genauso wie die anderen Subventionen, damit das Parlament die Auswirkungen seiner Politik kennt.»
Wenn die Ausnahme zur Regel wird
Die EFK hat 32 Beispiele in den vier Kantonen geprüft, denen am meisten Steuererleichterungen gewährt wurden, nämlich Waadt, Freiburg, Neuenburg und Schaffhausen.
«Wir haben die Fälle ausgewählt, wo der Bezug zwischen dem Steuersubstrat und der Anzahl Beschäftigten am grössten ist. Es ist also nicht ein repräsentatives Muster, es sind die Fälle, die nach unserer Einschätzung aus steuerpolitischer Sicht das grösste Risiko in sich bergen», so Huissoud.
Von den 32 Unternehmen sind deren 26 «produktionsnahe Dienstleistungsbetriebe» (PNDB), die in vier Kategorien aufgeteilt werden: «hors sol-«, «Schaufenster-«, «implizierte» und «integrierte» PNDB.
Die Mehrheit dieser Unternehmen sind vor allem aus steuertechnischen Gründen hier, ihr Personal haben sie im Wesentlichen importiert, und ihre Investitionen beschränken sich auf Büroeinrichtungen. Mit Ausnahme der Kategorie «integrierte» PNDB (8 Unternehmen) ist man weit entfernt vom «starken Mehrwert für die Wirtschaft der Region».
Und das ist nicht alles. Für diese PNDB beschränkt der «Bonny-Beschluss» die Steuererleichterungs-Rate auf 50%. Um mehr als 50% Steuerrabatt zu erhalten, muss die Niederlassung des Unternehmens «von entscheidender Wichtigkeit für die regionale Wirtschaft» sein.
Nun hat man aber in den Jahren 2005 bis 2007 100% Steuerrabatt an Unternehmen gewährt, die mindestens 100 Arbeitsplätze schafften – oder dies versprachen. Die Ausnahme wurde zur Regel.
So sind an der Waadtländer Küste am Genfersee zwischen Lausanne und Genf Aushängeschilder gelandet wie der europäische Sitz des Internet-Giganten Yahoo!, der die Schaffung von 350 Arbeitsplätzen versprochen hatte und später lediglich deren 100 ankündigte, davon 6 bis 10% Schweizer…
Oder Vale, der brasilianische Bergbaumulti, von dem der brasilianische Staat 5,6 Milliarden Dollar ausstehende Steuern fordert, und der lediglich in der Schweiz sei, um seine zu versteuernden Gewinne mittels Bilanzmanipulationen zu verringern.
Das Unternehmen profitiert laut der Waadtländer Zeitung 24 heures von einem Steuererlass von 80% auf Bundessteuern und 100% auf kantonalen und Gemeindesteuern. Etwas zu viel, findet die Eidgenössische Steuerverwaltung. Sie lässt den Fall gegenwärtig vom Waadtländer Verwaltungsgericht prüfen.
Die Schaube anziehen
Der von allen Seiten kritisierte Finanzminister des Kantons Waadt, Pascal Broulis, hat jüngst in den Medien auf die Vorwürfe geantwortet. Gegenüber seinen Amtskollegen in den anderen Kantonen, die ihn der unlauteren Konkurrenz beschuldigen, spricht Broulis von «intelligentem Management».
Und jenen, die sich über die Steuergeschenke empören, stellt der Waadtländer Finanzminister Zahlen gegenüber: 63 neue Unternehmen, 1,8 Milliarden Franken Investitionen, 4663 Arbeitsplätze und eine halbe Milliarde Steuereinkünfte. Ohne diese Steuererleichterungen gäbe es nichts von dem, so Broulis.
Der EFK-Bericht ist weniger triumphalistisch: Gemäss den Zahlen für das Jahr 2008 haben auf die 32 überprüften Unternehmen deren 10 den Kantonen und Gemeinden mehr Kosten als Einnahmen gebracht.
Wenn der «Bonny-Beschluss» begraben ist und durch eine neue regionale Politik ersetzt wird mit weniger «wirtschaftlichen Erneuerungsgebieten», werden dessen Auswirkungen bis 2017 weiter spürbar sein. Jene Unternehmen, die 2007 Steuerrabatte für eine fünfjährige Periode erhielten, müssen ihre Anträge für eine weitere Fünfjahresperiode 2012 neu prüfen lassen.
Werden die Bedingungen für Steuerrabatte jetzt strenger unter die Lupe genommen? Die EFK ruft jedenfalls deutlich zu einer Verstärkung der Kontrollrolle des Seco auf, das seinerseits bereits bekanntgab, geeignete Massnahmen getroffen zu haben. «Für uns ist klar, dass das Seco aufmerksam ist und Anträge strenger prüft als bei der ersten Bewilligung», sagt Michel Huissoud.
Seit Jahren machen Deutschland und die Europäische Union (EU) Druck auf die Schweiz: Sie soll die Steuersysteme in gewissen Kantone abschaffen, die Holdinggesellschaften sehr günstige Bedingungen bieten.
Regelmässig führen auch die Steuererleichterungen für reiche Ausländerinnen und Ausländer zu Kritik.
Kürzlich hat der Kanton Waadt den Pharmariesen Novartis mit Steuergeschenken von unbekannter Grösse und Dauer davon abgehalten, eine Fabrik in Prangins bei Nyon zu schliessen.
Fast alle Länder und Regionen versuchen, mit tiefen Steuern für eine gewisse Zeit Unternehmen anzulocken.
Die Europäische Union (EU) wacht darüber, dass es zwischen ihren 27 Mitgliedsländern nicht zu Wettbewerbs-Verzerrungen kommt.
In ihrem Vertrag über die Arbeitsweise der EU sind Kriterien enthalten, die Bereiche definieren, in denen die Wirtschaft von öffentlicher Unterstützung profitieren darf (Subventionen, zinsgünstige Darlehen, Staatsbeteiligungen, Beschaffung von Waren oder Dienstleistungen zu niedrigen Preisen oder Steuer-Vergünstigungen).
Zwei Kategorien von Regionen können von diesen Massnahmen profitieren:
– Regionen, in denen die Lebenshaltung aussergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht und das BIP pro Person nicht über 75% beträgt. Solche Regionen betreffen 32,2% der Bevölkerung der EU.
– Regionen, die im nationalen Schnitt benachteiligt sind, deren BIP pro Person aber trotzdem über 75% des Mittelwerts der EU liegt. Dies betrifft 10,8% der Bevölkerung der EU.
In der Schweiz gibt es keine Zonen der ersten Kategorie. Jene Zonen, in denen Unternehmen unter der Neuen Regionalpolitik (NRP), die dem «Bonny-Beschluss» folgte, von Steuererleichterungen profitieren können, entsprechen der zweiten EU-Kategorie. Der Prozentsatz der betroffenen Bevölkerung entspricht mit 10,1% praktisch jenem der EU.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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