Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Verzweifelt gesucht: Auswege aus der Kostenspirale der Schweizer Gesundheitskosten

Blister mit Medikamententabletten
Der neuerliche Prämienschock für 2024 ist für viele Haushalte in der Schweiz eine bittere Pille. Keystone / Gaetan Bally

Die Menschen in der Schweiz müssen nächstes Jahr eine weitere bittere Pille schlucken: Die Krankenkassenprämien steigen um durchschnittlich 8,7%. Seit Jahren liegen die Kosten für die medizinische Grundversorgung über der Teuerung. Warum ist das so? Und gibt es überhaupt einen Ausweg aus diesem Teufelskreis?

Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das unter den gesundheitlichen Folgen der Covid-19-Pandemie leidet und gleichzeitig mit den Kostenfolgen einer alternden Bevölkerung zu kämpfen hat.

Aber das Schweizer Gesundheitssystem hat auch hausgemachte Probleme, die den Gesundheitsminister:innen seit Jahren Kopfzerbrechen bereiten.

Warum 2024 wieder eine Kostenexplosion?

Der Anstieg von fast neun Prozent bei der Krankenversicherung ist selbst im Vergleich zu den letzten Jahren besonders drastisch. Es ist der höchste jährliche Anstieg seit 2010, als die Prämien um fast elf Prozent stiegen. Und das wohlverstanden bei einer allgemeinen Inflationsprognose von nur 2,2 % für dieses und nächstes Jahr.

Externer Inhalt

Die Krankenkassenprämien werden in diesem Jahr die Kosten von 35 Milliarden Franken für das Gesundheitswesen nicht decken. Das war auch im vergangenen Jahr schon so. Ausserdem hat die schlechte Entwicklung der Finanzmärkte ein Loch in die Reserven der Krankenversicherer gefressen.

Nach Angaben des Departementes des Innern, in dessen Bereich die Gesundheitspolitik fällt, sind die Kosten für Medikamente in diesem Jahr um 5,5% gestiegen. Auch die Rechnungen von Ärzten und Krankenhäusern für Behandlungen sind gestiegen, was zum Teil auf eine Änderung der Tarifstruktur für Krankenhausbehandlungen im Jahr 2022 zurückzuführen ist.

Wo sind Einsparungen möglich?

Das Departement, dem Bundespräsident Alain Berset vorsteht, habe unter anderem «die Medikamentenpreise seit 2012 um mehr als eine Milliarde Franken und die Labortarife um 10% gesenkt».

Gesundheitsminister Alain Berset beklagte, dass das Parlament einige seiner ehrgeizigeren Sparvorschläge blockiert oder verwässert habe. So etwa den Vergleich der Arzneimittelpreise in der Schweiz mit anderen Ländern, in denen sie weniger kosten. Es wird vermutet, dass dabei die mächtige Lobby der Pharmaindustrie eine Rolle gespielt habe.

Preisüberwacher Stefan Meierhans ist der Meinung, dass die Schweizer Krankenkassen allen, die im Ausland billigere Medikamente kaufen, die Kosten erstatten sollten.

Martin Landolt, Präsident des Krankenkassenverbandes Santésuisse, sagte gegenüber dem Tages Anzeiger, dass im Gesundheitswesen zu viele unwirksame Behandlungen durchgeführt würden.

Ist das System kaputt?

Politiker:innen, Krankenhäuser und Versicherungen äussern ihre Besorgnis über Ineffizienz und Geldverschwendung – obwohl sie sich nicht alle einig sind, wie diese Probleme zu lösen sind.

In der Zeitung Blick sprach Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin der Spitalgruppe H+, von Spitälern, die wegen mangelnder Finanzierung schliessen müssten. «Wenn es keine übergreifenden Pläne gibt, um das System mittelfristig anzupassen, werden weitere folgen», warnte Bütikofer.

Laut Thomas Boyer, Direktor des Krankenversicherers Groupe Mutuel, liegt ein Problem darin, dass die Kantone die staatlichen Krankenhäuser betreiben und kontrollieren.

«Sie befinden sich in einer Position, die an einen Interessenkonflikt erinnert: Sie sind Eigentümer der Krankenhäuser und haben daher ein Interesse daran, deren Rentabilität sicherzustellen. Gleichzeitig bestimmen sie den Rückerstattungssatz aus den Rechnungen, die den Patient:innen ausgestellt werden», sagte er Anfang des Jahres im Westschweizer Fernsehen RTS.

Santésuisse-Präsident Landolt schlägt vor, dass der Bund und nicht die Kantone das Spitalwesen betreiben sollten.

Im Jahr der Schweizer Parlamentswahlen sind die explodierenden Gesundheitskosten ein heisses Eisen. Mehrere Parteien haben Pläne zur Reform des Gesundheitssystems und zur Senkung der Versicherungskosten vorgelegt.

Doch Gesundheitsminister Berset beharrt darauf, dass das «sehr gute Gesundheitssystem» keine radikale Überholung braucht. «Mit Ausnahme des Jahres 1848 [ein Jahr radikaler politischer Reformen und der Gründung des Bundesstaats Schweiz, die Red.] war ich noch nie ein Anhänger von Revolutionen», sagte er. »Es gibt keinen Bedarf für eine solche.»

Wie steht das schweizerische Gesundheitssystem im internationalen Vergleich da?

Die Schweiz hat das teuerste Gesundheitswesen der 38 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Das zeigt die neue Studie «Health at a Glance 2021», die jüngst publiziert wurde.

«Ein und derselbe Warenkorb kostet in der Schweiz 72% mehr als im OECD-Durchschnitt», ist im Bericht zu lesen. Der Betrieb eines Spitals ist in der Schweiz mehr als doppelt so teuer wie im OECD-Schnitt.

Dafür ist die Bevölkerung in der Schweiz im Vergleich zu den meisten OECD-Ländern mehr als zufrieden mit der «Verfügbarkeit einer hochwertigen Gesundheitsversorgung an ihrem Wohnort». Rund 91% der hier Befragten sind zufrieden, während der OECD-Durchschnitt bei 71% liegt.

Die Schweizer Preisvergleichs-Webseite Moneyland.ch relativiert diese Zufriedenheit in ihrer eigenen, im Juli veröffentlichten Umfrage jedoch. Auf einer Skala von eins bis zehn gaben die 1538 Befragten den Krankenversicherungen eine allgemeine Note von 7,9, die bei der Bewertung des Preis-Leistungs-Verhältnisses auf 7,4 sank.

Die Kosten des Gesundheitswesens stehen an der Spitze des neuen Sorgenbarometers, den das Forschungsinstitut gfs.bern vor den Wahlen publizierte.

Bleiben die Versicherungsprämien weiterhin über der Inflation? 

Das ist eine der am schwersten zu beantwortenden Fragen. Aber angesichts der zahlreichen Probleme, die Fachleuten innerhalb des Gesundheitssystems orten, ist dies durchaus möglich.

«Wir müssen uns mit den Problemen der steigenden Gesundheitskosten befassen. Das ist ein echter Notfall», sagte Thomas Boyer von der Groupe Mutuel.

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH weist jedoch darauf hin, dass die Gesamtkosten im Gesundheitswesen in den letzten 15 Jahren nur um bescheidene 2,6% pro Jahr gestiegen sind.

Die Krankenkassenprämien sind weitaus stärker gestiegen, weil das «antiquierte» Krankenversicherungsmodell nicht mehr mit den Kosten und der sich verändernden Art der Behandlungen Schritt halte, die mehr ambulante Behandlungen ermöglichten, so die FMH.

Der Verband hat mit dem Innendepartement von Alain Berset und den Krankenversicherern Gespräche geführt, um ein neues Modell für die Finanzierung der Gesundheitskosten und ein neues System zur Abrechnung der Kosten durch Spitäler und Ärzt:innen auszuarbeiten.

Die FMH ist der Meinung, dass dadurch die Kosten für die Gesundheitsversorgung besser an die Finanzierung angepasst werden könnten, was den steigenden Versicherungsprämien etwas die Spitze nehmen würde.

Die Reformpläne, die seit fast 15 Jahren diskutiert werden, haben jedoch noch keine Früchte getragen.

Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft