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Völkermord an Armeniern: Schweiz gibt sich diskret

Die Schweiz hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts viele armenische Flüchtlinge aufgenommen, unter ihnen zahlreiche Kinder. Keystone

Verschiedene hochrangige Delegationen nehmen in Eriwan an den Gedenkfeiern zum Völkermord an den Armeniern teil. Die Schweiz wird nur auf Botschafterebene vertreten sein. Dies nachdem sich Bern gegen die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer in Nähe der UNO in Genf ausgesprochen hatte. Eine Haltung, die bei den Armeniern in der Schweiz Konsternation auslöst.

«Die Armenier in der Schweiz sind zutiefst schockiert und empört über das Verhalten des Bundesrates. Wir bedauern diese Kapitulation vor dem türkischen Staat, der unsere Institutionen erpresst.»

Das Communiqué der Armenier in der Schweiz wurde zwei Tage vor den Gedenkveranstaltungen zum Völkermord an den Armeniern veröffentlicht, der am 24. April 1915 begonnen hatte. Eindringlich wird in der Mitteilung auf die Abwesenheit eines Mitglieds des Bundesrates an den in der armenischen Hauptstadt Eriwan organisierten Gedenkfeiern verwiesen, an denen unter anderem die Präsidenten Russlands und Frankreichs, Wladimir Putin und François Hollande, teilnehmen.

Die Regierung der Schweiz lässt sich durch ihren Botschafter in Eriwan vertreten. Eine parlamentarische Delegation mit zehn Abgeordneten unter Leitung der beiden Nationalräte Dominique de Buman und Ueli Leuenberger – Co-Präsidenten der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Armenien – wird die Bevölkerung vertreten. Eine Initiative, die von der armenischen Diaspora in der Schweiz begrüsst wird.

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Schweiz als Vermittlerin

Von swissinfo.ch dazu befragt, hat das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf die MedienmitteilungExterner Link verwiesen, in der angekündigt wurde, wer die Schweiz in Eriwan vertreten wird: «Der Bundesrat folgt damit seiner bisherigen Praxis einer zurückhaltenden Teilnahme an Gedenkfeiern zu internationalen historischen Ereignissen.»

Ein Argument, das die Armenier in der Schweiz widerlegen, indem sie in Erinnerung rufen, dass Didier Burkhalter am 27. Januar 2014 in seiner Rolle als Bundespräsident an den Gedenkfeiern zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz teilgenommen hatte. «Er hatte damals insbesondere erklärt, dass niemand das Recht habe, einen Völkermord zu leugnen», unterstrichen sie in ihrem Communiqué.

In seiner RedeExterner Link hatte Burkhalter gesagt: «Noch heute werden hie und da das Ausmass oder sogar die Existenz des Holocaust, der anderen Verbrechen der Nazis und weiterer Genozide geleugnet. Wir alle müssen eine solche Haltung entschieden ablehnen und ihr entgegentreten, indem wir an die Fakten erinnern, an die historische Wirklichkeit und an die Gräuel des Holocaust.»

Das EDA ruft auch sein Engagement für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien in Erinnerung: «So sehen die 2009 zwischen den zwei Staaten unterzeichneten Protokolle von Zürich unter anderem die Schaffung einer gemischten Kommission mit unabhängigen Historikern vor, die sich mit der Auslegung dieser tragischen Ereignisse auseinandersetzen soll.»

In der Medienmitteilung der Regierung heisst es weiter, der Bundesrat habe die «tragischen Ereignisse im Jahr 1915 wiederholt verurteilt, die zum Tod sehr vieler Armenierinnen und Armenier geführt haben (je nach Quelle zwischen mehreren Hunderttausenden und 1.5 Millionen)».

Bei diesen Quellen geht es einerseits um jene der türkischen Regierung, die von einem Bürgerkrieg spricht (dessen Auswirkungen durch eine Hungersnot verstärkt wurden), in dem 300’000 bis 500’000 Armenier und ebenso viele Türken ums Leben gekommen seien. Andererseits kam eine sehr grosse Mehrheit von Historikern zum Schluss, dass es sich um einen Genozid gehandelt habe, um von den Behörden der osmanischen Türkei kaltblütig geplante Massaker und Deportationen, die zum Tod von eineinhalb Millionen Christen, vor allem Armenier, geführt habe. Diese Gemeinschaften waren als Verräter im Dienste der Alliierten des Ersten Weltkriegs betrachtet worden, während sich das Osmanische Reich auf die Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns geschlagen hatte.

Vielfältige Beweise für Völkermord

«Die Beweise für den Völkermord gehen auf den Genozid selber zurück, mit einer Vielzahl von Dokumenten, Zeugenaussagen von Überlebenden, mit diplomatischen Dokumenten nicht nur von den alliierten Staaten aus dem Ersten Weltkrieg, sondern auch mit Dokumenten von Ländern, die damals die Türkei unterstützt haben, wie Deutschland oder Österreich-Ungarn», erklärt Vicken Cheterian, Professor an der Webster Universität in Genf, dessen jüngstes WerkExterner Link sich genau um diese Fragen dreht.

«Es ist bedauerlich, dass wir auch nach 100 Jahren nicht den Mut haben, diese Ereignisse als Genozid zu qualifizieren. Wenn dem so ist, wozu dienen dann die Lehrstühle für Geschichte?», sagt er.

Bleibt die Tatsache, dass die Position des Bundesrates jener einer Reihe anderer westlicher Regierungen gleicht, die den Ausdruck Völkermord in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich verwenden. Mehrere andere Länder, darunter Österreich, werden an den Gedenkfeiern in Eriwan wie die Schweiz durch einen Botschafter vertreten sein.

Noch kein Denkmal in Genf

Dass die Armenier in der Schweiz derart verärgert sind über den Bundesrat, und vor allem über das Aussenministerium, hängt mit der Intervention des EDA gegen ein Projekt für ein Denkmal in der Nähe des Palais des Nations in Genf, dem Europa-Sitz der UNO, zusammen. Das Kunstwerk ist eine Hommage an die Opfer des Völkermords und an die Solidarität, welche die Menschen in Genf und der Schweiz seit mehr als einem Jahrhundert Armeniern gegenüber zum Ausdruck brachten.

ville-ge.ch

Das Mahnmal des französischen Künstlers Melik Ohanian trägt den Namen «Laternen der Erinnerung» und zeigt Tränen aus Stahl, die aus den Laternenkandelabern «fallen». Zehn Jahre nachdem das Projekt lanciert wurde, wird in Genf noch immer nach einem Standort gesucht. Nach einer schriftlichen Intervention von Didier Burkhalter vom 8. Dezember 2014 bleibt das Projekt festgefahren. Die Stellungnahme war aufgrund einer Anfrage der Genfer Kantonsregierung erfolgt.

In einer schriftlichen Antwort gegenüber swissinfo.ch erklärte das EDA die Gründe für die Intervention: «In seinem Brief hat Herr Burkhalter auf die Bedeutung des internationalen Genfs für die Schweiz hingewiesen, und auf die Notwendigkeit, ein unparteiisches, friedliches Umfeld zu erhalten, damit die internationalen Organisationen ihre Aufgaben unter den bestmöglichen Bedingungen wahrnehmen können. Die Zustimmung zur Errichtung eines Denkmals wie die Laternen der Erinnerung in Nähe des Palais des Nations, das in der diplomatischen Gemeinde ernsthafte Bedenken aufkommen lässt, würde die Position des internationalen Genfs schwächen, und dies im Kontext eines stärkeren Wettbewerbs unter Gaststädten.»

Für Stefan Kristensen, den Koordinator des Denkmalprojekts, war diese Intervention zu viel. «Im Grunde genommen legt Didier Burkhalter die gleiche Zurückhaltung an den Tag wie seine Vorgänger. Aber derart aktiv zu werden, das hatte es noch nie gegeben.»

Völkermord von gestern, Massaker von heute

Vicken Cheterian geht noch weiter, indem er schätzt, dass die Türkei auf die eine oder andere Weise Druck auf die Schweiz ausgeübt habe. «Es ist absurd, dass man die Türkei in interne Angelegenheiten der Schweiz eingreifen lässt. Es war ein grosser Irrtum, auf dieses Thema einzugehen. Man weiss, dass die Türkei in dieser Frage viel Wirbel macht. Aber wenn man sich standhaft zeigt, hat die Türkei keine andere Wahl, als die Dinge zu akzeptieren.»

«2003 hat der Nationalrat den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Ankara reagierte verärgert und rief seinen Botschafter zurück. Aber drei Jahre später war es die Türkei, die sich für eine Vermittlung zwischen Ankara und Eriwan an die Schweiz wandte.»

Die von swissinfo.ch kontaktierte türkische Botschaft in Bern begrüsst die Position des EDA: «Beim Entscheid der Schweizer Behörden (die Schweiz in Eriwan durch einen Botschafter zu vertreten, N.d.R.) wurden verschiedene Aspekte dieser Frage in Erwägung gezogen. Wir schätzen auch die Tatsache, dass sich die Schweiz weiterhin für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien einsetzt.»

Was das Mahnmal in Genf betrifft, schreibt die Botschaft: «Ein solcher Monumentalbau hat die Empfindungen der rund 130’000 Schweizer Bürger mit türkischen Wurzeln verletzt. Diese haben den Schweizer Behörden ihre legitimen Einwände verschiedentlich mitgeteilt. Andererseits haben sich die UNO-Behörden nie positiv zum Bau des Monuments in deren unmittelbaren Nähe geäussert.»   

Die Schweiz habe den Ehrgeiz, eine Politik zu führen, die auf den Menschenrechten basiere, auf der friedlichen Lösung von Konflikten, sagt Cheterian. 

«Wenn man nicht respektiert, was man proklamiert, kann diese Politik nur als Heuchelei bezeichnet werden. Wenn es passt, wird von Respekt für die Menschenrechte gesprochen. Wenn es etwas kostet, fehlt der Mut, zu unseren Werten zu stehen.»

Für Cheterian hat die Frage des Völkermords an den Armeniern nichts Akademisches an sich: «Die Leugnung des Genozids an den Armeniern hat die politische Kultur des Nahen Ostens verpestet, und jene der übrigen Welt, die nach dem Abschluss des Vertrags von Lausanne von 1923 lange die Augen vor dieser Tatsache verschloss.»

Mit Nachdruck erklärt der Forscher weiter: «Es besteht eine Kontinuität zwischen den Ereignissen von 1915 und den anhaltenden Massakern der Dschihadisten, welche die christlichen Gemeinden im Nahen Osten als Fremde betrachten, auch wenn diese dort waren, bevor die Türken aus Zentralasien kamen, und bevor der Islam aufkam.»

Historische Beziehungen zwischen Schweizern und Armeniern

Mitte des 19. Jahrhunderts lebten etwa zwei Millionen Armenier im Osmanischen Reich und etwa eine halbe Million im russischen Kaukasus. Das Erwachen der Nationen in dem damals unruhigen Europa stiess bei dem christlichen Volk, das seit 1375 seiner eigenen staatlichen Freiheit beraubt war, auf ein breites Echo.

1887 gründete eine Gruppe armenischer Studenten in Genf die sozialdemokratische Partei Hintschak, die zum Kampf für die nationale Befreiung aufrief. 1890 folgte die Revolutionäre Föderation Daschnakzutiun, die Genf als Zentrum ihrer Auslandaktivitäten wählte.

Diese Gruppierungen organisierten in der Türkei lokale Revolten, was eine allgemeine, harte Reaktion des Osmanischen Reichs nach sich zog. Armenier wurden zu Tausenden massakriert, was in Europa, auch in der Schweiz, grosse Empörung hervorrief.

Nach dem Genozid gegen die Armenier, der 1915 begann, nahm die Schweiz mehrere Hundert Überlebende auf. Sie wurden in Heimen untergebracht, die unter Leitung von Pfarrer Antony Krafft-Bonnard in Begnins und Genf errichtet worden waren.

Im Völkerbund setzten sich die damaligen Bundesräte Gustave Ador und Giuseppe Motta für die Belange des «Märtyrervolkes» und die Schaffung einer nationalen armenischen Heimat ein.

Während der Vertrag von Sèvres (Frankreich) vom 10. August 1920 Armenien in den vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson vorgeschlagenen Grenzen anerkannt hatte, erwähnte der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, mit dem das Abkommen von Sèvres revidiert wurde, nicht einmal mehr die Existenz eines armenischen Staats.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz

 

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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