Was braucht es für Entspannung zwischen Kosovo und Serbien? Einsichten einer Schweizer Friedensforscherin
Die Lage im Kosovo ist heute so angespannt wie lange nicht mehr. Die Friedensforscherin Dana Landau glaubt in dieser Situation weiterhin an Dialog. Doch auch die Vermittlerin in diesem Dialog, die Europäische Union, müsse ihre Versprechen einhalten.
Es ist ein seltsamer Zeitpunkt, sich mit Versöhnung zwischen Serbien und Kosovo auseinanderzusetzen. Nach dem 24. September 2023 – an dem Tag sind im Norden von Kosovo 30 maskierte und bewaffnete Männer in den Ort Banjska eingedrungen.
Mit Lastwagen blockierten sie die Zugangsbrücke des Klosterdorfs. Die kosovarische Polizei konnte das stoppen, aber im Schusswechsel sind ein kosovarischer Polizist und drei serbische Angreifer ums Leben gekommen.
Die Attacke stürzte Kosovo in eine schwere Krise. Die Furcht vor einem neuen Krieg griff um sich. Die Angreifer sind professionell ausgerüstet und wohl Teil einer paramilitärischen Gruppe gewesen.
Doch für Balkanexpert:innen wie den Schweizer Historiker Oliver Jens Schmitt und die kosovarische Öffentlichkeit war etwas anderes entscheidend: Die Anführer der Angreifer waren Personen mit engen Beziehungen zur Regierung des Nachbarlands Serbien.
Es ist eine Zerreissprobe in der angespannten Beziehung zwischen Kosovo und dem Nachbarn Serbien, der die Unabhängigkeit seiner einstigen Provinz bis heute nicht anerkennt. Wie kann man nun Ansätze für eine Entspannung finden?
Die Schweizer Politologin Dana Landau ist stoisch: Der Dialog müsse wieder aufgenommen werden. Landau befasst sich seit Jahren mit der Frage nach Friedensförderung und den diplomatischen Verhandlungen in Kosovo. «In der Theorie kann Mediation Konfliktparteien dabei helfen, Lösungen für ihre Differenzen zu finden», sagt sie.
Mit anderen Worten: Die beiden Parteien müssen mit einer vermittelnden Stimme zusammenkommen. Das Ziel wäre dann, einen Konsens zu finden.
Als internationale Vermittlerinnen zwischen Serbien und Kosovo wirken die Europäische Union (EU) und die USA. Auch deren Vermittlungsarbeit ist durch die Attacke Ende September zurückgeworfen worden.
Der letzte Meilenstein ist zehn Jahre her
Doch die Theorie trifft im Westbalkan auf komplexe Zusammenhänge und einen politisch aufgeladenen Diskurs. Die Mittelspersonen brauchen Geduld.
Ein letzter Meilenstein der Annäherung ist zehn Jahre her: 2013 feierte die internationale Gemeinschaft das Zustandekommen des Brüsseler Abkommen. Die Vertreter der beiden Länder einigten sich damals auf einen 15-Punkte-Plan.
Zentral war, dass Serbien die kosovarische Gesetzgebung auf dem Gebiet des Kosovo akzeptiert. Gleichzeitig anerkannte Serbien Kosovos Unabhängigkeit weiterhin nicht an.
Im Gegenzug sollten die von einer serbischen Mehrheit bewohnten Gemeinden in Kosovo mehr Rechte erhalten. So war unter anderem ein eigener Gemeindeverband vorgesehen. Die Verhandlungsarbeit hatte gefruchtet, schien es. Die EU verbuchte das Brüsseler Abkommen als Erfolg.
Bei diesem Abkommen stand auf der einen Seite der kosovarische Premier Hashim Thaçi, der sich heute wegen Kriegsverbrechen als Angeklagter vor dem Kosovo-Spezialgericht in Den Haag wiederfindet. Auf der anderen Seite stand damals der serbische Ministerpräsident Ivica Dačić.
Dačić war bereits während dem Kosovokrieg Teil der serbischen Regierung. 2013 sagte er im Rahmen der Mediation: «Ich war Teil einer Regierung, die versuchte die Kosovo-Frage durch Krieg zu lösen. Vielleicht liegt ein wenig Gerechtigkeit darin, dass ich heute die höchste Verantwortung trage, eine friedliche Lösung zu finden.»
Chronologie hin zur Eskalation
Doch seither haben sich die Positionen verhärtet – besonders im letzten Jahr. Ein vermeintlich banaler Streit um die Nummernschilder der Autos entwickelte sich im Herbst 2022 zur Belastungsprobe. Kosovos Regierung hatte die im Norden wohnhaften Serb:innen dazu aufgefordert, ihre Autos nicht mehr in Serbien, sondern in Kosovo registrieren zu lassen.
Aus Protest dagegen legten in der Folge fast alle Kosovo-Serb:innen ihre Ämter in Behörden und Lokalpolitik nieder.
Ebenfalls 2022 war es zu Strassenblockaden an den Grenzübergängen gekommen, weil Kosovos Regierung neuerdings serbischen Bürger:innen ohne kosovarisches Zusatzpapier die Einreise verweigerte.
Im Dezember 2022 kam es dann bereits zu Schusswechseln und Explosionen nach der Verhaftung eines serbischen Polizisten in Kosovo. Serbische Demonstranten blockierten daraufhin die Grenzübergänge.
Nach den lokalen Wahlen Ende Mai 2023, die die Kosovo-Serb:innen boykottierten, wurden dreissig internationale KFOR-Soldaten bei einem gewaltsamen Protest von Kosovo-Serb:innen schwer verletzt.
Die Chronologie der jüngsten Ereignisse liest sich nicht wie ein sich anbahnender Friedensschluss. Im Gegenteil.
Seit dem Anschlag vom 24. September scheint eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien nun umso ferner: Ivica Dačić, der beim Brüsseler Abkommen 2013 seine Verantwortung für eine friedliche Lösung betont hat, ist auch heute in Serbiens Regierung, als Aussenminister.
Nach der Attacke in Banjska hat Dačić die Beweise so lange als Lügen bezeichnet, bis sie sich nicht mehr leugnen liessen. Statt zu beruhigen, machte er dann Aussagen wie diejenigen, dass «das serbische Volk das Recht habe, sich zu verteidigen» – und behauptete, die kosovarische Regierung habe die Attacke provoziert.
Kosovos Regierung wiederum hat wegen der Verbindungen der Angreifer in Banjska EU-Sanktionen gegen Serbien gefordert. Es sei nicht von der Hand zu weisen, dass die paramilitärische Gruppe durch Belgrad orchestriert worden sei. Die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani sprach gar von einer versuchten Annektierung des Kosovo.
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Eine angriffige Vermittlung
Die EU stellt sich in der neuen Situation auf den Standpunkt, dass die Wiederaufnahme des Dialogs die einzige Option ist. Zudem hat sie Forderungen an beide Länder formuliert.
Friedensforscherin Landau glaubt, dass das keine schlechte Strategie sei. «Ein bestimmtes und durchsetzungsfähiges Auftreten der Vermittler kann zu Resultaten führen.»
Die EU ist nicht nur Vermittlerin, sondern auch Akteurin. Sowohl Kosovo als auch Serbien streben offiziell einen EU-Beitritt an. An einen Beitritt kann die EU Bedingungen knüpfen – wenn er eine reale Perspektive ist.
Da es momentan keinen realistischen Fahrplan gibt, ist der Glaube an einen EU-Beitritt bei allen darauf hoffenden Ländern auf dem Westbalkan kaum mehr vorhanden, was wiederum die Möglichkeit, Anreize in die Vermittlung einzubauen, hindert.
Belgrad führt schon seit 2014 Beitrittsgespräche mit der EU. Aber in Serbien schwindet laut Umfragen das Interesse an der Europäischen Union.
Nach Landaus Einschätzung gelingt Präsident Aleksandar Vučić eine Gratwanderun: Er achtet darauf, die EU als wichtigste Import- und Exportregion nicht zu vergraulen, gleichzeitig pflegt er offen eine enge Beziehungen mit Russland und China.
Serbien ist neben der Türkei und Weissrussland das einzige Land in Europa, das die Sanktionen gegen Russland nicht unterstützt. «Vučić weiss, wie er die Situation zu seinem Vorteil spielen kann und fördert inzwischen auch ein Narrativ, das sehr europakritisch ist», sagt Landau. Dies kann er auch deshalb pflegen, weil Serbien von Seiten EU ohnehin keine realistische Perspektive auf einen Beitritt hat.
Aus Sicht des Kosovo wiederum ist die EU als Vermittlerin nicht unparteiisch. Der Grund: Die Verantwortlichen bei der EU kommen aus Ländern, die die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen.
De facto behandeln die EU-Institutionen den Kosovo zwar bereits seit 15 Jahren in vielerlei Hinsicht als Staat und als Verhandlungspartnerin mit einer Zukunft als Mitglied in der Europäischen Union, aber die EU-Mitgliedsstaaten Spanien, Slowakei, Rumänien, Zypern und Griechenland, haben die Unabhängigkeit Kosovos bis heute nicht anerkannt.
Miroslav Lajčák ist Sonderbeauftragter der EU für den Dialog zwischen Kosovo und Belgrad und war zuvor Aussenminister der Slowakei. Der spanische Politiker Josep Borrell ist Aussenbeauftragter der Europäischen Union und ebenfalls massgeblich in den Verhandlungen involviert.
«Die EU hat in der Region an Glaubwürdigkeit verloren»
Weltweit anerkennen um die 115 Länder den jüngsten Staat Europas. Die Schweiz ist eines davon. Als Micheline Calmy-Rey Aussenministerin war, hatte die Schweiz in den Nullerjahren sogar als erstes Land die internationale Diskussion über einen unabhängigen Kosovo lanciert.
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Für Kosovo ist bis heute jede weitere Anerkennung ein Anreiz – besonders, wenn er von EU-Ländern käme. Einen ähnlichen Anreiz bildet die Reisefreiheit innerhalb der Europäischen Union.
«Kosovo erfüllt schon seit 2018 alle Auflagen der EU, um visafrei reisen zu können», sagt Landau. Umgesetzt wird die Liberalisierung aber erst im kommenden Jahr, ab dem 1. Januar 2024. Bis die Visapflicht tatsächlich abgeschafft ist, wollen viele Menschen in Kosovo dies aber nicht glauben. Zu oft hat sie die EU deswegen vertröstet.
«Die EU hat in der Region an Glaubwürdigkeit verloren», befindet Landau. Mediation, so die Friedensforscherin, sei mehr als den beiden Parteien neutrale Räume des Austauschs zu schaffen und Szenarien für Lösungen zu präsentieren. Zu gelingender Vermittlung gehörten auch Anreize und Druckmittel.
Doch deren Effekt verpufft, wenn sich der Vermittler selbst nicht an die Versprechen hält.
Editiert von Benjamin von Wyl
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