Wer nicht stimmt, bezahlt
Schaffhausen ist der einzige Kanton der Schweiz – und einer von wenigen Plätzen weltweit – wo bestraft wird, wer nicht an Abstimmungen teilnimmt. Im März hat das Kantonsparlament die Strafe von bisher 3 auf 6 Franken erhöht. Der bescheidene Betrag hat für Behörden und Bevölkerung symbolischen Wert.
Wenn der Zug am Rheinfall, Europas grösstem Wasserfall, vorbeifährt, ist die Station Schaffhausen nicht mehr weit weg. Im Zentrum des Hauptorts, er trägt den gleichen Namen wie der Kanton, herrscht schon am frühen Morgen Betriebsamkeit, vor allem in der Vordergasse. In dieser Einkaufsmeile stehen zahlreiche barocke Gebäude. Die Renaissancefresken an den Fassaden des «Haus zum Ritter» gelten sogar als die bedeutendsten nördlich der Alpen. Im letzten Jahr liess sich die Stadt die Renovation der historisch bedeutenden Wandmalereien 100’000 Franken kosten.
Schaffhausen, der nördlichste Kanton der Schweiz, beherbergt nur 80’000 Einwohner oder rund 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Obwohl sich der Kanton in den letzten Jahren in vielen Belangen gewandelt hat – der Versuch, die nach Zürich ausgerichtete Wirtschaft zu diversifizieren, hat zur Ansiedlung internationaler Firmen wie Unilever geführt –, hat er ein Traditionsbewusstsein behalten.
Das zeigt sich auch in Bezug auf das Abstimmungsverhalten. «Schaffhausen ist der einzige Kanton in der Schweiz, in dem ein Obligatorium für Abstimmungen und Wahlen gilt», sagt Staatsschreiber Stefan Bigler, dessen Bürofenster den Blick auf die im 16. Jahrhundert gebaute Munot-Festung erlaubt.
Die im 19. Jahrhundert verbreitete obligatorische Abstimmung wurde in den anderen 25 Kantonen in den 1970er-Jahren abgeschafft, erklärt der mit der Beaufsichtigung der Abstimmungen beauftragte Beamte. Schaffhausen hat mehrere Versuche abgeschmettert, diese Praxis zu ändern.
Schaffhausen ist der nördlichste Kanton der Schweiz und zu 80% von Deutschland umgeben. Auf einer Fläche von 298 km2 oder 0,7% des Schweizer Territoriums leben rund 80’000 Einwohner – die Hälfte davon im gleichnamigen Hauptort Schaffhausen. 19’000 Personen sind Ausländer.
Bekannt ist die Region für ihren Wein, besonders für den Pinot Noir, aber auch wegen des Rheinfalls, Europas grösstem Wasserfall, der jährlich mehr als drei Millionen Besucher anzieht.
In den letzten 10-20 Jahren hat der Kanton versucht, seine Attraktivität für Industrie- und High-Tech-Firmen zu steigern und seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Kantonen Zürich, Waadt und Zug zu verbessern. Unilever, Bosch und Abbott Laboratories haben sich im Kanton niedergelassen, Wal-Mart und John Deere haben dort ihren Hauptsitz.
(Quelle: Kanton Schaffhausen, Schaffhauserland Tourismus, swissinfo.ch)
Sanfter Druck
«Der Vorteil der obligatorischen Abstimmung besteht darin, dass sie einen sanften Druck auf die Bürger ausübt, sich um die politischen Belange zu kümmern», sagt Bigler.
Das System der politischen Demokratie der Schweiz erlaubt den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur die Teilnahme an Wahlen, sondern auch bei Referenden und Volksabstimmungen über gesellschaftspolitisch relevante Themen zu entscheiden. Die Stimmbeteiligung ist in Schaffhausen durchwegs 15 bis 20 Prozent höher als der gesamtschweizerische Durchschnitt. Bei der letzten Abstimmung vom 9. Februar 2014 über die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» zum Beispiel, lag diese bei 70,5% im Vergleich zum nationalen Durchschnitt von 55,8%.
Laut Bigler ist dies nicht die Folge der Geldstrafe. Man kann sich ohne grosse Schwierigkeiten von der Teilnahme entschuldigen lassen. Auf dem zurückzuschickenden Stimmausweis können verschiedene Gründe (Ferien, Krankheit) aufgeführt werden. Überprüft werden sie nicht. Ausserdem gibt es eine Gnadenfrist von drei Tagen nach der Abstimmung, während denen der Ausweis ohne Entschuldigungsgrund zurückgegeben werden kann.
Nur wer das alles versäumt, muss gegenwärtig noch eine Busse von 3 Franken bezahlen, die in der Regel Ende Jahr einer behördlichen Rechnung hinzugeschlagen wird.
Im Vergleich zu ihren Amtskollegen Australiens, eines von mehr als 20 Ländern mit Abstimmungs-Obligatorium, die ihre stimmabstinenten Landsleute mit 20 australischen Dollars bestraffen und diese ins Gefängnis stecken, wenn sie nicht bezahlen, sind die Schaffhauser Behörden geradezu gnädig.
In Europa: Belgien, Luxemburg, Liechtenstein, Kanton Schaffhausen (CH), Zypern, Griechenland
In den meisten Ländern Zentral- und Südamerikas gibt es Gesetze, welche die Teilnahme an Abstimmungen in unterschiedlicher Form als verbindlich erklären.
In Australien wurde das Obligatorium 1924 eingeführt, als Reaktion auf geringe Stimmbeteiligungen.
In Singapur trat es 1959 In Kraft, auf den Fidschi Inseln und in Thailand erst 1997.
(Quelle: Electoral Commission Britain, The International Institute for Democracy and Electoral Assistance)
Staatsbürgerliche Pflicht
Was die Leute motiviert, sei der Respekt gegenüber einer staatsbürgerlichen Pflicht, sagt Bigler. Das zeigt sich an der grossen Zahl der Teilnehmenden bei den Volksbefragungen und der geringen Zahl brieflicher Stimmabgabe. «Die Leute betrachten die Ausübung ihres Stimmrechts als Privileg und vielleicht sogar mit ein wenig Stolz.»
Diese Meinung teilen viele Leute auf Schaffhausens Strassen. «Ich lasse nie eine Abstimmung aus», sagt eine 70-jährige Rentnerin, welche die Treppen am Weinberg zum Munot hinaufsteigt. «Wir sind ein eng zusammengewachsener Kanton. An den Abstimmungen treffen sich alle Leute. Das hat Tradition hier.»
«Ich stimme jedes Mal ab, genauso wie alle meine Freunde», sagt ein 20-Jähriger, der im Stadtzentrum in der Morgensonne eine Zigarettenpause macht. Er räumt allerdings ein, dass sich die Leute meistens erst nach dem 20. Altersjahr für Politik zu interessieren beginnen.
«Es ist aber wichtig, dass man die Abstimmungsrechte ernst nimmt, vor allem angesichts der vielen Orte weltweit, wo die Menschen keine politischen Rechte haben.»
Es gibt in Schaffhausen aber Leute, die trotz Busse an den Abstimmungen nicht teilnehmen, wie zum Beispiel der Hotelier René Laville, der seine Gründe dafür dem Schweizer Fernsehen bekannt gab.
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Hotelier René Laville nimmt an Abstimmungen meistens nicht teil
Zurück in die Zukunft?
Dass sich das Kantonsparlament ohne Opposition – im Rahmen einer Revision des Wahlgesetzes – für eine Verdoppelung der Geldstrafe entschieden hat, ist ebenfalls symptomatisch. Um den Betrag, der während mehr als 40 Jahren unverändert geblieben war, der Inflation anzupassen, hätte die Busse auf 7 statt nur auf 6 Franken erhöht werden müssen. Vor 1973 wurde für das gleiche Vergehen während 100 Jahren eine Geldstrafe von 1 Franken erhoben.
Die 6-Franken-Strafe wird voraussichtlich 2015 in Kraft treten. Sie soll mithelfen, einen Teil der administrativen Kosten für das Bussensystem zu finanzieren.
Die Lust an der politischen Debatte des Kantons sei auch der Lebensnerv seiner Tageszeitung, sagt Norbert Neininger, Verleger der Schaffhauser Nachrichten. «Es mag sich komisch anhören, aber man sollte das Wählen und Abstimmen nicht noch mehr vereinfachen, um das Bewusstsein zu festigen, dass es sich um etwas Wertvolles handelt», sagt Neininger in seinem Büro in der Vordergasse.
Er hält nicht viel von der brieflichen Abstimmung, sondern zieht den Gang an die Urne nach der Diskussion im familiären Kreis vor – aber wohlwissend, dass es der Druck des modernen Lebens nicht immer zulässt, den Wahl- oder Stimmzettel persönlich einzuwerfen.
Die obligatorische Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen bedeute nicht zwangsläufig mehr Volksmacht, sagte der Politologe Georg Lutz in einem Interview am Schweizer Fernsehen SRF.
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Politologe Lutz über Abstimmungspflicht
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Schaffhausens und aller anderen Kantone werden schon am 18. Mai erneut an die Urne gerufen, wo sie u.a. über die Einführung eines Mindestlohns und über den umstrittenen Kauf von neuen Kampfjets durch der Schweizer Armee befinden sollen.
Auf lokaler Ebene wird das Stimmvolk im nördlichsten Zipfel der Schweiz gefragt, ob der Kanton Schaffhausen reorganisiert werden soll. 14 der insgesamt 26 Gemeinden haben nämlich weniger als 1000 Einwohner, was eine ineffiziente und kostspielige Administration verursacht.
Nicht zur Diskussion steht diesmal die Frage, ob die Abstimmungspflicht abgeschafft oder beibehalten werden soll.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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