Widerlicher Menschenhandel für europäische Millionen
Zehntausende Eritreer wurden bereits in den Sinai entführt und dort gefoltert. Die Entführer fordern Lösegelder bis zu 40'000 US-Dollar. Diese kriminellen Gruppen haben Verbindungen bis nach Europa – auch in die Schweiz, wo sich die Behörden des Problems kaum bewusst sind. swissinfo.ch hat mit Betroffenen gesprochen.
«Ich hörte die Schreie auf der anderen Seite der Mauer, doch ich wusste nicht, wie viele Gefangene dort waren. Ich wusste nur, dass wir in unserer Zelle zehn waren. Unsere Füsse waren an die Mauer gekettet. Es gab auch ein kleines Kind, das ohne Unterbruch geweint hat.»
Rahwa* ist 21 Jahre alt. Sie ist zerbrechlich und schlank wie ein Teenager. Ihre Augen sind die eines Menschen, der schon lange nicht mehr ruhig geschlafen hat.
Gründe für die Flucht
Seit seiner Unabhängigkeit 1993 regiert der ehemalige Revolutionsführer Isaias Afewerki, 59, Eritrea mit eiserner Hand. Er wurde im maoistischen China ausgebildet.
Sein Regime gilt als eines der repressivsten und paranoidesten der Welt; das Land zählt zu den zehn ärmsten Staaten.
Im Juni 2014 hat der UNO-MenschenrechtsratExterner Link entschieden, eine Untersuchung über die Zustände in Eritrea einzuleiten – eine Massnahme, die bisher lediglich für Syrien und Nordkorea ergriffen wurde.
Im August 2012 ist sie aus Eritrea in den Sudan geflüchtet, wo sie das Flüchtlingslager Shagarab einige Kilometer von der Grenze weg erreichen wollte. Doch mit einer Gruppe von Flüchtlingen wurde sie eingefangen und auf die Sinai-Halbinsel verschleppt. Dort entstand seit 2009 ein grosses Netzwerk für Waffen-, Drogen- und Menschenhandel.
In einer Ecke sitzend, mit einem weissen Kopftuch, fixiert Rahwa regungslos die Kaffeekanne. Dann füllt sie die Tassen auf. Fünf: So viele ehemalige Sinai-Entführungsopfer leben in dieser Baracke aus rohem Zement in einem Vorort der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Ihre Freunde ermutigen sie, weiterzureden: «Es ist schwierig, zu erzählen, was ich erlebt habe… Sie haben mich geschlagen und vergewaltigt. Sie haben mich mit Elektroschocks gefoltert und mit brennendem Plastik, das sie mir an die Haut klebten. Seht Ihr die Brandmale?» Während sie vor Schmerzen schrie, riefen die Folterer ihre Familie in Eritrea und Europa an und verlangten ein Lösegeld: 25’000 US-Dollar in bar.
Rahwa befand sich während sechs Monaten in den Händen der Entführer in der Sinai-Wüste. Ihr Freund Gebre* war eineinhalb Jahre lang eingesperrt. Seine Familie konnte die geforderten 40’000 US-Dollar nicht aufbringen. «Sie dachten, ich sei tot, daher unbrauchbar. Deshalb warfen sie mich auf die Strasse, wie Abfall, auf einen Leichenhaufen von anderen Migranten.»
Millionengeschäft
Das Phänomen des grausigen Menschenhandels auf der Sinai-Halbinsel wurde in der Weltöffentlichkeit bereits mehrmals angeprangert: zuerst von Nichtregierungs-Organisationen, dann von den Vereinten Nationen und schliesslich vom Europäischen Parlament in einer im März 2014 angenommenen ResolutionExterner Link. Doch bis heute sei nichts oder fast nichts unternommen worden, um dieses Übel an der Wurzel zu bekämpfen, sagt Méron Estefanos, Ko-Autorin von zwei grossen StudienExterner Link zu diesem Thema.
Eitreer sind beliebte Opfer
Am Anfang wurden Migranten aus allen Ländern am Horn von Afrika in den Sinai verschleppt, doch mit der Zeit konzentrierten sich die Entführer auf die Eritreer.
Dies erklärt sich durch die starke Präsenz einer eritreischen Diaspora in Europa und Israel, die besonders verbunden und in der Lage ist, Lösegelder zu bezahlen.
Doch auch die beiden Tatsachen spielen eine Rolle, dass diese jungen Flüchtlinge in ihrer Verzweiflung oft unvorstellbare Risiken auf sich nehmen und dass es in der Welt an medialer und politischer Aufmerksamkeit für das Problem mangelt.
Innert weniger Jahre hat die eritreische Journalistin und Aktivistin mit schwedischem Pass tausende Augenzeugenberichte gesammelt und diese den europäischen Behörden vorgelegt. Dadurch wurde sie zu einer Bezugsperson für die Migranten, die sich ihre Telefonnummer weitergeben.
Laut Schätzungen von Estefanos wurden zwischen 2009 und 2013 mindestens 32’000 Personen in den Sinai entführt, was eine Beute von 622 Millionen US-Dollar eingebracht hat. In diesen Menschenhandel involviert seien rund 40 kriminelle Gruppen. Die Auswirkungen dieser Foltercamps sind bis nach Europa zu spüren, wo die Familien der Eritreer die Lösegelder an Mittelsmänner übergeben müssen, umgeben von allgemeiner Gleichgültigkeit.
Denn die Familien in Eritrea sind nicht in der Lage, solch grosse Geldsummen zu beschaffen, und auch im Ausland müssen Flüchtlinge um ihr Überleben kämpfen. Also muss gesammelt werden; man fragt Verbände, Kirchen, Nachbarn und entfernte Verwandte an. Viele stürzen sich in Schulden, um ihre Nächsten zu retten.
Doch es ist unmöglich zu wissen, ob sich parallel nicht ein weiterer Handel entwickelt hat – jener der Kredithaie. «Meine Mutter hat 35’000 US-Dollar für meinen Freikauf gesammelt», erzählt Asmaron*, 21. «Jetzt hat sie nichts mehr, ausser dass sie jenen Geld zurückzahlen muss, die ihr geholfen haben. Aber wie sie das machen soll, weiss ich nicht…»
Verkauft wie Vieh
In den ersten Jahren wurden die eritreischen Flüchtlinge beim Versuch, die israelische Grenze zu erreichen, direkt auf der Sinai-Halbinsel entführt. Das Anti-Immigrationsabkommen zwischen Italien und Libyen hatte den Weg über das Mittelmeer unpassierbar gemacht. Doch seit dem Ende des Gaddafi-Regimes (2011) und dem Entscheid der israelischen Netanyahu-Regierung, eine 230 Kilometer lange Grenzmauer zu errichten (2012), führt die Hauptroute der Migranten erneut durch Libyen und über das Mittelmeer.
Deshalb werden die Flüchtlinge seither vom Nomadenvolk der Rashaida im Sudan oder sogar direkt aus Eritrea entführt, die sie dann an die Sinai-Beduinen weiterverkaufen. Dies alles mit dem Segen der sudanesischen und ägyptischen Sicherheitskräfte, wie das Europaparlament anklagte.
«Die Reise in den Sinai dauerte etwa 20 Tage. Es gab nicht genug Wasser. Nichts zu Essen. Wir haben mehrere Kontrollposten passiert. Die Soldaten sprachen Arabisch, ich habe nicht verstanden, was sie sagten. Aber niemand hat uns aufgehalten», erzählt Rahwa.
In den letzten Monaten habe sich der Menschenhandel mit Flüchtlingen wieder verschoben, sagt Meron Estefanos. Die Entführungen in den Sinai seien «vorübergehend unterbrochen» worden, nachdem die ägyptische Armee in der Region aktiv gegen Gotteskrieger geworden sei. Heute werden eritreische Flüchtlinge in der sudanesischen Wüste festgehalten oder als Sklaven nach Libyen verkauft, wo sie Waffen transportieren oder in den Minen arbeiten müssen.
Befreiung bedeutet nicht Freiheit
Die Nacht fällt über Addis Abeba. Der Regen fällt ohne Unterbruch auf das Blechdach. Es ist kalt. Rahwa und ihre Freunde haben alle ihre zerlöcherten Kleider angezogen, die ihnen geblieben sind. In einigen Tagen werden sie wieder zur grossen Truppe der Obdachlosen in der äthiopischen Hauptstadt gehören. Der Flüchtling, der bisher ihre Miete bezahlte, hat sich nach dem Sudan aufgemacht.
Es ist kein Zufall, dass wir sie hier getroffen haben. Ist erst einmal das Lösegeld bezahlt und die Migranten im Sinai sind freigekommen, müssen diese mit der Unnachgiebigkeit der ägyptischen Behörden kämpfen. Da sie als Ausländer in einer illegalen Situation gelten, werden sie angehalten und inhaftiert.
«Wir haben vier Monate in einer Zelle in Ägypten verbracht. Niemand hat mich irgendetwas gefragt, niemand erklärte mir, warum», erzählt Asmaron. «Dann haben mir die ägyptischen Behörden eines Tages gesagt: ‹Du kannst wählen, ob wir Dich nach Eritrea oder Äthiopien abschieben.› So bin ich hierhin gekommen.»
Schweiz: Tröpfchenweise humanitäre Visa
Im September 2012 wurde die Möglichkeit gestrichen, in den Schweizer Botschaften ein Asylgesuch zu stellen. Der einzige Weg, aus dem Ausland ein Asylgesuch einzureichen, ist seither jener des humanitären Visums.
Doch die Bedingungen dafür sind extrem restriktiv: Zwischen 29. September 2012 und 4. Juli 2014 wurden laut Bundesamt für Migration (BFM) 58 Gesuche gutgeheissen.
Aus Ägypten und dem Sudan haben mehrere Sinai-Opfer versucht, Hilfe aus der Schweiz zu erhalten – erfolglos. «Asyl oder ein Einreisevisum (zur Abklärung des Asylgesuchs) wird nicht als Kompensation für ein erlittenes Leid erteilt, sondern zum Schutz vor einer aktuellen oder zukünftigen Bedrohung», präzisiert das Bundesamt für Migration (BFM). In anderen Worten, es reicht nicht, entführt und gefoltert zu werden, um Schutz zu verlangen, wie dies auch ein Urteil des Bundesverwaltungs-GerichtsExterner Link bestätigte.
Handel auch über die Schweiz
Zurück in der Schweiz treffen wir Habtom*, der uns das Drama von der anderen Seite her schildert, jener der von den Erpressern kontaktierten Familien. «Mein Bruder schrie vor Schmerzen, weinte und bat mich inständig, ihm zu helfen.»
Das war 2009, als sich die Lösegelder noch auf einige tausend US-Dollar beschränkten. «Ich habe einer Person in Zürich 2800 US-Dollar übergeben, die sie mit Western Union nach Ägypten schicken sollte. Ich weiss nicht, ob dieses Geld jemals angekommen ist.»
Während mehrerer Monate hörte Habtom nichts mehr von seinem Bruder. Eines Tages erhielt er eine Fotografie per Mail: «Es waren die Leichen meines Cousins und… meines Bruders.»
Drei Jahre später wiederholte sich die Geschichte. Sein 15-jähriger kleiner Bruder wurde im Sudan entführt. «Wenn Du nicht bezahlst, bringen wir ihn in den Sinai», drohten die Entführer. Wie hat er, der arbeitslos war, das Geld zusammengebracht? «Alle haben mir gegeben, was sie konnten, manchmal nur zehn Franken. Ich habe dasselbe für andere getan. Und so wurde mein Bruder freigelassen und konnte über das Meer die Schweiz erreichen.»
Vor Ort helfen, nicht in der Schweiz
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) haben im Sudan ein Hilfsprojekt für Opfer des Menschenhandels lanciert. Die Schweiz unterstützt das Projekt ebenfallsExterner Link.
In der Schweiz hingegen ist keine spezifische Hilfe für Migrantinnen und Migranten vorgesehen, die Opfer von Menschenhandel waren. Auch hätten bei der eritreischen Gemeinschaft, die wahrscheinlich von Menschenhändlern aus dem Sinai erpresst wird, keine Sensibilisierungs-Aktivitäten stattgefunden, so das BFM.
Die Geschichte von Habtom ist kein Einzelfall in der Schweiz. Seit 2010 hat der Suchdienst des Roten Kreuzes mindestens 40 Hilfsgesuche von eritreischen Sinai-Opfern erhalten, wie ein Bericht der Westschweizer Tageszeitung Le Temps vom März 2014 zeigte.
Jeanne Rüsch, stellvertretende Leiterin des Suchdienstes, erklärt die Problematik: «Es ist an den betroffenen Personen, Klage einzureichen, wir können sie lediglich unterstützen. Doch die Prozedur ist kompliziert: Die Klage muss bei der Gemeindepolizei eingereicht werden, die oft keine Ahnung von diesem Phänomen hat. Diese reicht sie an die Kantonspolizei weiter, dann geht sie an die Bundespolizei und schliesslich an Interpol, da die Straftat im Ausland geschehen ist.»
Kaum Klagen
Weil die Lösegeld-Forderungen in Europa markant zugenommen haben, hat EuropolExterner Link die Mitgliedsländer der Europäischen Union dazu angeregt, ihre Kräfte im Kampf gegen diesen Menschenhandel zu bündeln und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Die Schweiz ist seit Jahren eine der bevorzugten europäischen Destinationen von eritreischen Flüchtlingen, zusammen mit Schweden, Norwegen, Deutschland und den Niederlanden. Sie gehört daher sicherlich zu den Hauptzielen dieser Art von Handel, mit dem Millionen verdient werden.
Doch die Erpressungsopfer reichen selten Klage ein. «Die Eritreer leben in konstanter Angst, und es fällt ihnen schwer, jemandem zu trauen», sagt Estefanos. «Das ist nicht schwierig zu verstehen, wenn man weiss, dass sie in einer paranoiden Diktatur aufgewachsen sind.»
Auch Habtom hatte sich nicht an die Schweizer Behörden gerichtet. «Warum hätte ich das tun sollen? Uns fehlte die Zeit, denn sonst wäre mein Bruder tot gewesen.»
Diese Reportage wurde im Rahmen von eqda.chExterner Link realisiert, einem Journalisten-Austauschprojekt zwischen der Schweiz und Entwicklungsländern.
Um etwas Bewegung in die Angelegenheit zu bringen, haben einige Nichtregierungs-Organisationen dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) gewisse Erpressungsfälle gemeldet. Dieses beteuerte, es habe «keinerlei Kenntnis von Erpressungsfällen, wie sie Europol beschreibt» und lud uns ein, die Kantonspolizeien zu kontaktieren. Jene der grössten Kantone haben wir angeschrieben. Einzig die Berner Kantonspolizei bestätigte, sie habe eine Klage wegen Erpressung im Zusammenhang mit einem Fall von Menschenhandel von Migranten im Sinai erhalten.
Auch in der Europäischen Union bleibt die Erpressung von Migranten praktisch ungestraft. Nach zahlreichen missglückten Versuchen hat es Meron Estefanos endlich geschafft, die Aufmerksamkeit der schwedischen Polizei auf diese Problematik zu lenken, auch dank der Intervention eines Journalisten. Ihre Anklage führte zur Verhaftung von zwei Mittelsmännern. Ein Tropfen Wasser ins Meer, doch könnte dieser eine Bresche in den Damm des undurchsichtigen Menschenhandels schlagen.
* Name geändert
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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