125 Jahre Zionistenkongress: Wie die zionistische Bewegung in Basel auf Israels Zukunft blickt
"Wir müssen uns den Begriff Zionismus zurückholen", fordert der israelische Präsident in Basel. 125 Jahre nach dem ersten Zionistenkongress hörte man viele Ideen, wie das gehen soll. Doch manche gehen kaum zusammen.
Wer rein will, passiert Militär und Polizei aus allen Ecken der Schweiz. Dann wird Schweizerdeutsch selten. Die über tausend Gästen, darunter Unternehmer:innen und Philantrop:innen, sind aus fast allen Weltregionen angereist. Neben Hebräisch ist Englisch die Verkehrssprache. Von den Konferenzbühnen sind zwei Wörter besonders häufig zu hören, meistens als Ausruf: Dreamer! Visionary!
Die Begriffe zielen manchmal auf alle frühen Zionist:innen, aber meist auf Theodor Herzl. Am 29. August 1897 rief er nach Basel zum ersten Zionistenkongress. Herzl war Initiator und dann Gründungspräsident der World Zionist Organisation. «Wenn ihr wollt, ist es kein Traum», schrieb er danach: Ein jüdischer Staat, der jüdische Menschen vor antisemitischer Verfolgung und Diskriminierung schützt.
Der Traum geht weiter
«Wenn ihr wollt, ist es kein Traum», steht am 29. August 2022 überall auf Plakaten und Projektionen. Dabei ist das Land ja längst real: Der Staat Israel feiert nächstes Jahr seinen 75. Geburtstag. Angekommen ist das Land auch in der Realität, in den Widersprüchen und Niederungen des Alltags. Doch Herzls Traum endete nicht bei der Staatsgründung.
Mit dem Motto «Der Vergangenheit gedenken und eine Vision für die Zukunft errichten», begrüsst die Moderatorin das Publikum am Sonntag. Die zweitägige Konferenz gleicht phasenweise einem TED-Talk-Event: Da gibt es ausgefeilte Reden, die eine persönliche Geschichte mit grossen Ideen verbinden. Doch selbst bei Podiumsdiskussionen gibt es keinen Raum für Fragen aus dem Publikum.
Das führt dazu, dass mögliche Widersprüche zumindest im Plenum nicht diskutiert werden. Das Gedenken ist einhellig. Es wird an die 2000 Jahre Exil bis hin zur Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Shoa erinnert. Ebenso betonen viele ihre Besorgnis über die globale Zunahme von antisemitischen Attacken und bekräftigen ein entschiedenes Vorgehen dagegen.
Wie sieht der Zionismus der Zukunft aus?
Doch bei der Vision für die Zukunft gibt es Differenzen: Wenn etwa Yaakov Hagoel, Vorsitzender der World Zionist Organization, verkündet, dass innert zehn Jahren die Mehrheit der Jüd:innen weltweit in Israel leben solle, fragt sich, ob das auch im Sinn der jüdischen Diaspora sein kann. Von den weltweit 15 Millionen Jüd:innen leben heute ausserhalb von Israel die meisten in den USA.
Nachman Shai, Israels Minister für Diaspora-Anliegen, legt den Fokus eher auf Teilhabe. Er skizziert in Basel den Plan, dass Israel den Juden und Jüdinnen weltweit eine Möglichkeit zur politischen Mitwirkung in Israel bieten soll.
Israel ist alles
Rabbi Azman ist mit dem Zug nach Basel gekommen – weil es aus der Ukraine keine Flüge gibt. «Für Juden, die nichts haben, bedeutet Israel alles», sagt der Chefrabbi der Ukraine zum Jubiläum. Für jene, die jetzt flüchten, hat die «Alija» – das ist die Möglichkeit aller Juden und Jüdinnen, nach Israel einzuwandern – eine grosse Bedeutung.
Azman illustriert sie am eigenen Beispiel. Vor über 30 Jahren verliess er mit seiner Frau die auseinanderfallende Sowjetunion. Als sie in Wien auf ihren Anschlussflug warteten, habe seine hochschwangere Frau von einem Unterstützer sogar eine Ananas bekommen, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte.
Der Anfang des politischen Zionismus
Die Idee der «Alija» ist älter als der politische Zionismus, aber entscheidend für ihn. Zionist:innen sind überzeugt, dass die politische und gesellschaftliche Emanzipation ohne jüdischen Staat keine Sicherheit garantiert. «Im 19. Jahrhundert glaubten optimistische jüdische Denker, dass die ‹Judenfrage›, Antisemitismus, die Diskriminierung durch Emanzipation verschwinden werde», setzt der israelische Erfolgs-Autor Micah Goodman in seiner Rede an.
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Damals habe man unter dem Eindruck der Aufklärungsideale gedacht, die Verfolgung sei überwunden. Herzl habe diesem Emanzipationsversprechen die Überzeugung entgegengesetzt, dass der antisemitische Hass in Westeuropa bloss unterdrückt sei. «Wenn also Emanzipation nicht die Lösung ist – was ist die Lösung? Zionismus ist erfolgreich, wo Emanzipation zum Scheitern verurteilt ist.» Dies ist, so Goodman, die Essenz von Herzls erster Schrift «Der Judenstaat».
Doch in Zukunft müsse sich Israel und die jüdische Diaspora stärker auf Herzls zweite einflussreiche Schrift beziehen: «Altneuland». Darin könne die nächste Generation des Zionismus enthalten sein. Ein Zionismus, der «jüdische Lösungen für universelle Probleme» findet. Goodman nennt als Beispiele die Klimaerwärmung und die politische Polarisierung, die er als «soziales Gegenstück der Klimaerwärmung» versteht. Der Applaus darauf ist frenetisch.
Eine egalitäre Utopie
«Altneuland», erschienen 1902, erzählt die Geschichte einer jüdischen Idealgesellschaft in Palästina: demokratisch, solidarisch, gleiche Rechte für alle. Auch für arabische Menschen. Hat Goodman also codiert den Nahostkonflikt thematisiert?
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Die Frage muss offenbleiben, doch sie drängt sich auf. Denn solange die Besatzung andauert, wird die zionistische Idee kaum über die jüdische Welt hinaus exemplarisch werden. Der Nahostkonflikt ist über weite Teile der Konferenz abwesend und präsent gleichermassen.
Nahostkonflikt als Elefant im Raum
Er ist der Elefant im Raum, wie auch Yves Kugelmann im Interview sagt, aber kein Tabu. Im Gespräch mit swissinfo.ch reden die israelischen Parlamentarier:innen Moshe Tur-Paz von der liberalen Regierungspartei und Shirly Pinto von der rechten Regierungspartei offen über ihre Perspektive auf das Thema.
Tur-Paz lebt in einer Siedlung im Westjordanland, deren Ursprung zwar älter ist als der israelische Staat, die aber gleichwohl von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig eingestuft wird. Tur-Paz sagt: «Ich glaube, dass meinen Vorfahren ganz Israel versprochen worden ist. Trotzdem bin ich nicht blind.»
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Warum Israel in Basel geboren wurde
Er sehe die arabische Bevölkerung, die im Gebiet lebt – teilweise mit israelischem Pass, teilweise nicht. Manche seien seine Freunde. «Wie die Mehrheit der Menschen in Israel sehne ich mich nach einer Art Lösung, die irgendwo zwischen Autonomierechten und einem eigenen Land liegt», sagt der Knesset-Abgeordnete.
Shirly Pinto betont, es sei entscheidend, die «palästinensische Wirtschaft zu entwickeln und palästinensische Leben zu verbessern». Im Bezug auf die arabischen Israelis müsse der Staat sicherstellen, «dass sie alles haben, was andere Menschen auch haben».
In zwei Monaten sind Wahlen in Israel. Noch sind Pinto und Tur-Paz Mitglieder derselben Regierung und betonen entsprechend, wie bedeutend es ist, dass in ihrer Regierungskoalition erstmals eine arabisch-islamische Partei vertreten ist. Israel sei ein jüdischer Staat, was aber zusammengehe mit gleichen Rechten für alle Bürger:innen.
Der Traum einer Nation
Auf ihr Verständnis von Zionismus angesprochen kommen auch im Gespräch mit Pinto und Tur Paz wieder die Worte «Visionary» und «Dreamer» auf. «Zionismus ist die Geschichte davon, wie die Israelische Nation vom Land Zion träumt, nach 2000 Jahren Exil das Beste macht. Seit der Staatsgründung bedeutet das, dass sich Juden und Jüdinnen aus der ganzen Welt an Israel orientieren können», sagt Tur Paz.
Pinto erklärt, in Israel sei jeder Beitrag zum Zusammenleben ein Beitrag zum Zionismus: «Ob Bildungsarbeit oder Armeedienst – alles ist Teil von Herzls Vision.»
Die grösste Begeisterung für einen Vortrag erntet der ehemalige Mossad-Direktor Yossi Cohen. Der israelische Geheimdienst sei Bestandteil für den in Israel realisierten Zionismus, sagt er. Und beschreibt, wie der Mossad eine iranische Atombombe mitverhinderte.
Herzl als Startup-CEO
Die Abschlussgala später bringt Lichtshow, Nebel und Popmusik. Hier nimmt die Interpretation von Herzls Werk dann teils abstruse Züge an. So wird er etwa mit dem CEO eines Startups verglichen, der Israel mit Crowdfunding zum Erfolg verholfen hat.
Die Schweizer Redner an der Gala, der Basler Regierungspräsident Beat Jans und Bundesrat Guy Parmelin, thematisieren den Nahostkonflikt. Parmelin bekommt Zwischenapplaus, als er sich für die Zweistaatenlösung ausspricht.
Den Begriff zurückholen
Auf Herzl, den Vordenker des Zionismus, der «jüdische Identität in eine effektive politische Doktrin» überführte, nimmt natürlich auch der israelische Präsident Jitzchak Herzog Bezug. Vor einem Jahr habe eine «führende Social Media-Plattform» diskutiert, ob das Wort «Zionismus» als Beleidigung behandelt werden solle, weil es etwa als antisemitischer Code missbraucht werde. Herzog fordert am Galaabend: «Wir müssen uns den Begriff Zionismus zurückholen.» Die Deutungshoheit zurückerlangen und ihn positiv übersetzen.
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Über das ganze Jubiläum hinweg ist ein grosses Bekenntnis spürbar, Zionismus idealistisch, ja utopisch zu verstehen. Doch wie sich die Idealgesellschaft von Herzls «Altneuland» in Realpolitik übersetzen soll, bleibt offen. Im Gegensatz zum Träumer Herzl beschreiben die Zionist:innen heute kein leeres Blatt.
Der Journalist Yves Kugelmann hat den Kongress aus jüdisch-schweizerischer Perspektive begleitet. Im Interview erklärt Kugelmann, was er kritisch sieht und spricht über den Übergriff gegen ihn an der Palästina-Demo:
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«Israel kann nicht als Antwort auf alles gelten»
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