Wikileaks zerstört Vertrauen in die Diplomatie
Ehemalige Schweizer Diplomaten sind sich einig: Die Publikation geheimer Dokumente auf der Plattform Wikileaks sabotiert die Arbeit der Diplomaten, zerstört das Vertrauen und hat zur Folge, dass Botschafter künftig die Regierung in der Heimat weniger direkt informieren werden.
Wenn der neue Chef Schottland- und Whiskey-Liebhaber ist, ist es nicht ratsam, beim Essen über den Unterschied zwischen Bordeaux und Burgunder zu reden. Wenn ein Schweizer Finanzminister mit einem europäischen Amtskollegen Verhandlungen führt für ein neues Doppelbesteuerungs-Abkommen, ist er im Vorteil, wenn er über Vorlieben, Macken, und Charaktereigenschaften seines Gesprächspartners im Bild ist.
Ins Bild gesetzt wird er vom Schweizer Botschafter im entsprechenden Gastland. Einst landeten die als vertraulich klassifizierten Informationen in Form eines Briefs – verpackt in einem Umschlag – direkt in den Amtsstuben und gelangten von dort in den Keller ins sichere Archiv. Im Zeitalter der Informationstechnologien ist die Übermittlung nicht nur einfacher und schneller, sondern auch anfälliger auf Indiskretionen und Lecks geworden. E-Mails können mit wenigen Klicks an Hunderte von Adressaten verschickt werden.
Mit der Veröffentlichung von mehr als 250’000 als «geheim» klassifizierten Dokumenten aus dem Schriftverkehr zwischen dem US-Aussenministerium und seinen rund 270 Auslandvertretungen hat die Internetplattform Wikileaks in ein Wespennest gestochen. Die amerikanische Aussenministerin Hillary Clinton bezeichnete die Veröffentlichung als «Angriff auf die Sicherheit des Landes».
Weites Spektrum
Auch der ehemalige Botschafter der Schweiz in Paris und London, François Nordmann, verurteilt das Leck: «Eine solche Publikation sabotiert die Arbeit der Diplomaten. Auch wenn die Dokumente viel Preis geben, das man bereits wusste, ist es störend, dass hoch gestellte Persönlichkeiten und sogar Staatschefs beschuldigt werden», sagte Nordmann der Zeitung Le Temps.
Es habe immer wieder Fälle gegeben, bei denen Briefe von Diplomaten an die Zentrale veröffentlicht wurden, erklärte der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin, Thomas Borer, gegenüber Radio DRS: «Durch diese Riesenanzahl ist das Vertrauen in die amerikanische Diplomatie untergraben.»
Die Diplomatie müsse mit Indiskretionen fertig werden, hält der langjährige Diplomat und ehemalige Staatssekretär Franz von Däniken fest. Das Spektrum der veröffentlichten Dokumente reiche von Peinlichkeiten bis zu hochriskanten Einblicken in Verhandlungs-Strategien.
Nicht mehr direkt, sondern verklausuliert
Von Däniken geht davon, aus dass Diplomaten künftig vorsichtiger sein werden und nennt die Folgen: «Ein Diplomat muss Einschätzungen liefern. Wenn er das nicht mehr ohne Vorbehalte machen kann, dann schwächt das die Aussagekraft seiner Informationen. Er muss dann verklausuliert formulieren, was man mit einer klaren und deutlichen Sprache und deutlichen Urteilen viel besser und prägnanter zum Ausdruck bringen könnte.»
Möglicherweise führe die Veröffentlichung der geheimen Dokumente auch dazu, dass Diplomaten künftig ihre Berichte vermehrt mündlich abgeben würden, um keine Lecks befürchten zu müssen.
Berlusconi: zu viele Partys
Von den 250’000 Depeschen stammen 255 aus der amerikanischen Botschaft in Bern und 432 aus der US-Mission in Genf. Bislang ist über den Inhalt dieser Dokumente nichts bekannt. Wikileaks hat lediglich Stichworte veröffentlicht wie «Menschenrechte», «Externe politische Beziehungen» oder «Terroristen und Terrorismus».
Deftiger, wenn auch wenig bedeutend, sind gewisse Veröffentlichungen von Einschätzungen der amerikanischen Diplomatie zu andern Ländern und ihren Staatschefs. So wird der französische Staatschef Nicolas Sarkozy als «nackter König» bezeichnet. Der deutschen Kanzlerin Angela Merkel werden mangelnde Risikobereitschaft und ein Mangel an Kreativität unterstellt.
Dem deutschen Aussenminister Guido Westerwelle bescheinigen die US-Diplomaten eine Neigung zur Aggressivität. Er sei zudem arrogant und ein «Rätsel», kurzum: «He’s no Genscher». Keine Offenbarung ist auch die «Enthüllung», dass der 74-jährige italienische Ministerpräsident nach einer seiner zahlreichen Partys zuweilen «müde» sei.
Gut muss der Whiskey sein
Politisch brisanter sind Dokumente, in denen es um Iran, Israel oder Afghanistan geht. So sollen gemäss den Dokumenten nicht nur Israel, sondern auch Saudiarabien und kleinere Golfstaaten die USA darauf gedrängt haben, entschlossener – womöglich militärisch — gegen Iran vorzugehen. Sie bestätigen auch Gerüchte, wonach Iran aus Nordkorea Mittelstreckenraketen geliefert bekommen habe, die eines Tages nukleare Sprengköpfe bis nach Moskau oder anderswohin transportieren könnten.
Laut einer andern Depesche hat der jemenitische Präsident Abdullah Saleh in einem Gespräch mit dem General der US-Truppen im Nahen Osten auch über seine Sorgen mit dem Schmuggel aus Djibouti berichtet. Kopfzerbrechen bereiteten ihm allerdings lediglich der Waffen- und Rauschgiftschmuggel, nicht aber der Whiskey-Schmuggel: «Vorausgesetzt es ist guter Whiskey.»
Die arabische Welt ist Veröffentlichungen der Enthüllungsseite Wikileaks zufolge über das iranische Atomprogramm besorgter als bislang bekannt.
Wie aus den amerikanischen Depeschen hervorgeht, drängte der saudi-arabische König Abdullah die USA bereits mehrfach zu einem Angriff, um das Atomprogramm des islamischen Landes zu stoppen.
«Schlagt der Schlange den Kopf ab», soll der saudiarabische König bei einem Treffen mit US-General David Petraeus im Jahr 2008 gesagt haben.
Den Dokumenten zufolge sprach sich der saudiarabische Aussenminister Saud al-Faisal dagegen für härtere Sanktionen gegen Iran aus, etwa für Reiseverbote und Einschränkungen von Bankgeschäften. Zugleich habe er einen Militärschlag nicht ausschliessen wollen.
Ein Kronprinz aus dem Emirat Abu Dhabi soll den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad mit Adolf Hitler verglichen haben.
Israel sieht sich in seiner kritischen Sicht auf Iran bestätigt. Es gebe zum ersten Mal in der modernen Geschichte in Europa, Israel und der ganzen Region eine Übereinstimmung, dass die grösste Bedrohung von Iran komme, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Rede vor Medien.
Er hoffe, dass die arabischen Machthaber mutig genug seien, öffentlich auszusprechen, was sie insgeheim dächten.
Der iranische Präsident Ahmadinedschad erklärte in Teheran, die Beziehungen zu seinen Nachbarn würden mit den Veröffentlichungen nicht beschädigt. Er glaube, dass es sich nicht um eine Enthüllung, sondern eine geplante Veröffentlichung handle, um politische Ziele zu verfolgen.
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