Wirkung des bolivarischen Projekts auf Lateinamerika
Um diplomatische Unterstützung in seinem Kampf gegen den Imperialismus zu erhalten, hat der verstorbene Präsident Hugo Chavez Venezuelas Ölreichtum eingesetzt. Damit konnte er regionale Institutionen schaffen und neue politische Allianzen schmieden. Eine Bestandesaufnahme.
«Dank Hugo Chavez schreitet Lateinamerika mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Integration», sagt Roberto Savio, Gründer der internationalen Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS).
«Sein Name wird in Verbindung gebracht mit der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA), mit der Entwicklungsbank des Südens und mit der Anerkennung, die der südamerikanische Markt Mercosur durch den Beitritt Venezuelas erhalten hat.»
Im April 2001, am 3. Amerikagipfel im kanadischen Quebec, hatte Chavez den bitteren Geschmack der Einsamkeit gekostet. «Meine Hand war die einzige, die sich gegen die Amerikanische Freihandelszone erhoben hatte», erinnerte er sich. Doch bereits vier Jahre später versenkten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela in Mar del Plata gemeinsam die US-Pläne und setzten damit neue Impulse für die lateinamerikanische Integration.
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Der Neue muss alte Chavez-Rechnungen übernehmen
Die Strategie der Annäherung basierte nicht allein auf einfachem Handelsaustausch, sondern auf Integration und Kooperation. Es sei eine andere Sicht als der Neoliberalismus, dessen Politik «nicht nur Elend und Armut verursacht, sondern auch zu einer regionalen institutionellen Instabilität geführt hat», wie der verstorbene argentinische Präsident Nestor Kirchner, Gastgeber des 4. Amerikagipfels 2005, erklärte.
«Lateinamerika hat gezeigt, dass die Länder ihre Souveränität wiedergewinnen und den internationalen Wirtschaftsinstitutionen sagen können: ‹Wir wollen die Schulden nicht bezahlen, weil sie illegitim sind.› Man will nicht für eine Minderheit von Bankern regieren, sondern für die Familien und zum Vorteil der Bürger», erklärte Pablo Iglesias, Professor an der Universität Complutense Madrid gegenüber Venezolana de Television.
Auch heute noch bleiben die USA der grösste Partner Lateinamerikas. Doch der Anstieg der Wirtschaftsbeziehungen mit China wie auch der Rohstoffpreise erlaubten Lateinamerika, sich besser zu behaupten.
Lateinamerika, dessen Wachstumsrate 2012 mit 3,2% weit über jener der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, 1%) lag, «hat sich zu einem Motor des globalen Wachstums gewandelt», sagt Philippe Nell, Leiter des Ressorts «Amerikas» beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).
Venezuela, das über die grössten Erdölreserven der Welt verfügt und dessen grösster Markt China ist (Platz eins bei den Exporten, Platz zwei bei den Importen), hatte unter der Regierung Chavez (1999-2013) eine Politik der Umverteilung des Reichtums im Inland und der regionalen Erweiterung der Aussenpolitik betrieben.
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Vertikales Wohnquartier in Caracas
Solidarität ohne Grenzen
Mit dem Schwarzen Gold stellte die venezolanische Regierung den Unterprivilegierten Wohnungen, Schulen und Gesundheitsversorgung zur Verfügung und erfüllte damit viele der Millenniumsziele der Vereinten Nationen (UNO). Dies haben die beiden UNO-Organisationen, die Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) und die Unesco, festgestellt.
Doch das Land zeigte sich auch gegen aussen solidarisch. Nach dem Erdbeben von 2010 in Haiti bot Venezuela mehr Hilfe an, als die USA und die Europäische Union zusammen; 200’000 Lateinamerikaner können dank gemeinsamer Gesundheits-Missionen von Caracas und Havanna wieder sehen; ein Programm von 3 Mio. US-Dollar ermöglichte den Bewohnern der Bronx in New York Gesundheitsprogramme, Bildungs- und Nahrungsmittelhilfe. Zudem konnten zwischen 2005 und 2013 zwei Millionen US-Einwohner dank Gratislieferungen von Brennstoff ihr Heim heizen.
Die Erdöl-Politik des verstorbenen Präsidenten führte denn auch immer wieder zu Kritik der Opposition. «Chavez Kooperation und Solidarität basiert auf Erdöl. Venezuela sicherte Loyalität und Handel mit seiner Energiehilfe», schrieb die venezolanische Tageszeitung El Universal am 7. März.
Im Artikel kam auch Eduardo Porcarelli, Professor an der Zentraluniversität von Venezuela zu Wort. Er unterstrich, Hugo Chavez habe «die Integrationspolitik auf Erdöl als wichtigstes Exportgut konzentriert».
Für Roberto Savio ist es «unausweichlich, dass Venezuela gezwungen sein wird, die Kosten der internationalen Solidarität herunterzufahren, und nicht mehr ein Musterbeispiel der internationalen Politik sein wird».
Claude Auroi, Präsident der Schweizerischen Amerikanisten-Gesellschaft, schätzt Nicolas Maduro, den Kronprinzen von Chavez und Favoriten der Präsidentschaftswahlen vom 14. April, als wenig charismatisch und kaum umstritten ein. Er werde der Öl-Industrie mehr Infrastruktur bieten müssen.
Venezuela ist der viertgrösste Partner der Schweiz in Lateinamerika. Bei den Exporten aus der Schweiz verzeichnet der Handel ein deutliches Wachstum. In den ersten drei Quartalen 2012 beliefen sie sich auf 342 Mio. Franken. Über die Hälfte davon waren pharmazeutische und medizinische Produkte.
Aus Venezuela wird weniger als ein Fünfzigstel dieser Menge in die Schweiz importiert (gleicher Zeitraum: 5 Mio. Franken), hauptsächlich Fischerei-, Land- und Forstwirtschafts-Produkte.
2008 verstaatlichte Venezuela die lokale Niederlassung des Schweizer Zementherstellers Holcim teilweise. Bisher hat Caracas 40% der Abfindung im Umfang von 650 Mio. Dollar bezahlt.
(Quelle: Seco)
Einheit: Traum oder Utopie?
Der emeritierte Professor des Graduate Institute (IHEID) in Genf zeigt sich auch skeptisch gegenüber dem Traum eines vereinten Lateinamerika, der Chavez sehr am Herzen lag. Für Auroi bremsen Fragen der Souveränität einzelner Staaten und Grenzkonflikte die gemeinsamen Strategien, trotz regionaler Allianzen. «Man könnte sehr grosse Projekte realisieren, doch es bräuchte einen viel grösseren politischen Willen, als er heute existiert.»
Dario Azzellini, Politikwissenschaftler an der Universität Linz, ist ebenfalls der Meinung, es existierten unterschiedliche Visionen und Interessen in den verschiedenen Ländern. Die Idee, in Lateinamerika seien die Bedingungen gegenwärtig gut, um einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu gründen – einer der Grundpfeiler der Ideologie des verstorbenen Chavez –, sei daher abwegig.
«Allerdings gibt es die Möglichkeit, bei Fragen der Souveränität und der kontinentalen Integration zusammenzuarbeiten und grössere wirtschaftliche und politische Autonomie zu erreichen.» Hugo Chavez habe bei der kontinentalen Integration eine «absolut zentrale Rolle» gespielt, ist der Spezialist für partizipative Prozesse in Venezuela überzeugt.
Am 14. April sind die Venezolanerinnen und Venezolaner an die Urnen gerufen, um den Nachfolger des am 5. März verstorbenen Hugo Chavez zu bestimmen.
Sieben Kandidaten bewerben sich für das Amt.
Favorit ist Nicolas Maduro von der Vereinigten Sozialistischen Partei. Der Kronprinz von Chavez verfügt laut Umfragen über rund 20% Vorsprung auf seinen stärksten Rivalen Henrique Capriles Radonski von der Partei «Gerechtigkeit zuerst».
Maduro verspricht, die Sozialpolitik des verstorbenen Präsidenten auf Basis des Erdölreichtums weiterzuführen – verbilligte Unterkunft und Lebensmittel sowie kostenlose Bildung.
Capriles Radonski will diese Leistungen ebenfalls weiterführen – allerdings unter Beteiligung des Privatsektors.
Beide Kandidaten haben sich dazu verpflichtet, den Kampf gegen die Kriminalität, eines der wesentlichen Probleme des Landes, zu verstärken.
Neue Allianzen, neue Visionen
«Ein wichtiger Aspekt der Ära Post-Chavez ist die Frage, in welchem Umfang Venezuela sein Verkaufs- und Finanzierungsprogramm von Erdöl für andere Länder weiterführen wird», ergänzt Philippe Nell.
Kuba als Hauptempfänger von venezolanischem Erdöl (100’000 Barrels pro Tag) würde ohne Zweifel stark unter einer Änderung der Politik leiden.
Zwischen den beiden Ländern gibt es eine starke Kooperation. Neben den gemeinsamen medizinischen Missionen auf dem Kontinent greift Kuba den Venezolanern bei medizinischer Versorgung und der Ausrottung des Analphabetismus unter die Arme.
«Kuba hat seine Lektion gelernt», nachdem der kommunistische Block zusammengebrochen sei, sagt Rolf Agostini, Schweizer Unternehmer in Havanna. Die Insel habe «sich mit der Öffnung der Märkte und der Etablierung von Projekten mit verschiedenen Ländern, namentlich Brasilien, China, Indien und Russland, geschützt «.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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