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Zeitenwende auch für das WEF

Klimastreik von Greta Thunberg beim letzten WEF 2020
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg führte beim letzten WEF 2020 einen Klimastreik vor dem Kongresszentrum in Davos durch. Als eine der wenigen jungen Stimmen, die zum WEF-Jahrestreffen eingeladen wurden, nahm sie auch an Panels teil. Keystone / Gian Ehrenzeller

In einer Welt, die sich mehr und mehr abschottet und nach neuen Narrativen sucht, verliert das WEF, der Fackelträger der Globalisierung, an Strahlkraft.

Wenn sich ab Sonntag Politiker:innen und Wirtschaftsgrössen am World Economic Forum (WEF) in DavosExterner Link versammeln, wird die Umgebung ganz anders aussehen als beim letzten Treffen vor zwei Jahren: Das WEF findet dieses Mal nicht im Winter, sondern im Spätfrühling statt. Und auch die globale politische Landschaft hat sich verändert, sehr sogar.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirft einen grossen Schatten auf die Veranstaltung, die bis am 26. Mai unter dem Motto «History at a Turning Point» (Geschichte am Wendepunkt) über die Bühne gehen wird.

«Dieses Jahrestreffen findet vor dem Hintergrund der komplexesten geopolitischen und geoökonomischen Situation seit Jahrzehnten statt», sagte WEF-Präsident Borge Brende auf einer Pressekonferenz am Mittwoch. «Wir müssen uns noch mehr auf die Auswirkungen und Ergebnisse konzentrieren.»

Für Davos 2022 wurden keine Teilnehmenden aus Russland eingeladen. Der bedrängte ukrainische Staatschef Wolodimir Selenski wird die Eröffnungsrede halten – aufgrund des Krieges virtuell. Er schickt aber eine grosse Delegation nach Davos.

China schickt wegen der Abriegelung seiner Städte im Zusammenhang mit Covid-19 keine Delegation in die Schweiz. Einzig sein Gesandter für den Klimawandel, Xie Zhenhua, wird in Davos erwartet.

Und die USA werden voraussichtlich nur durch John Kerry, den US-Sonderberater für Klimafragen, sowie den ehemaligen Vizepräsidenten und Umweltschützer Al Gore vertreten sein.

Dies steht in krassem Gegensatz zu Zeiten, als die grössten Volkswirtschaften der Welt entweder ihre Staatsoberhäupter oder zumindest hochrangige Delegationen ans Weltwirtschafts-Forum entsandten.

Die Abwesenheit hinterlässt nicht nur klaffende Löcher im WEF-Programm, sondern spiegelt gemäss Analystinnen und Beobachtern auch eine wachsende Diskrepanz zwischen dem WEF und der globalen Realität wider.

Anstatt dass sich die «Weltbürgerinnen und Weltbürger» in Davos treffen, um über dringliche Probleme zu sprechen, ziehen sich die Staaten in ihre eigenen Grenzen zurück – ein Trend, der durch die Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs verstärkt worden ist.

«Wir befinden uns in einer völlig anderen Welt, die aus rivalisierenden Blöcken besteht», sagt David Bach, Experte für politische Ökonomie an der IMD Business School in Lausanne. «Das hat weitreichende Folgen, nicht nur für die internationale Politik und Weltwirtschaft, sondern auch für die Strategie von Unternehmen.»

Fackelträger der Globalisierung

Als das WEF in den 1970er-Jahren ins Leben gerufen wurde, teilte der Kalte Krieg die Welt entlang ideologischer Linien die Welt in zwei Lager. Das jährliche Treffen im Bündner Alpenort brachte die konkurrierenden Weltanschauungen zusammen und liess den «Geist von Davos» entstehen: Die Idee, dass Vertreter:innen verschiedener Interessengruppen zusammenkommen und sich in einer friedlichen Atmosphäre austauschen, um Lösungen für die globalen Probleme zu erarbeiten.

Als die liberale Wirtschaftsordnung weltweit die Oberhand gewann und China und die ehemaligen Sowjetstaaten integriert wurden, wurde das WEF zum Synonym für den freien Handel und die wirtschaftliche Effizienz, welche die Globalisierung der 1980er- und 90er-Jahre prägten. Dies führte bis Anfang der 2000er-Jahre zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung und trug dazu bei, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien.

«Die massive Globalisierung, die wir erlebten, als China dem Welthandels-System beitrat, flachte vor etwa einem Jahrzehnt ab», sagt David Dorn, Professor für Globalisierung und Arbeitsmärkte an der Universität Zürich.

Während die Euphorie über die Errungenschaften der Globalisierung abgeklungen ist, wurde die Kritik lauter. Die immer grösser werdende Kluft zwischen Arm und Reich sorgt für Wut, Outsourcing führt zur Ausbeutung von Arbeitnehmer:innen in Ländern, in denen die Arbeiter:innen rechtlich kaum oder gar nicht geschützt sind, schnellere und komplexere Lieferketten verursachen irreversible Umweltschäden.

Um die Jahrtausendwende kam es zu gewaltsamen Protesten gegen das WEF und seinen «Milliardärsklub», der zum Sinnbild für die negativen Folgen der Globalisierung wurde.

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Das Forum versuchte im Lauf der Jahre, Bedenken zu zerstreuen, indem es etwa Kritiker:innen und Nichtregierungs-Organisationen einlud. Es organisierte WEF-Veranstaltungen in anderen Teilen der Welt – von Dubai über Kapstadt bis Tianjin.

Es gestaltete das kapitalistische Narrativ um, um es inklusiver zu machen und die Unternehmen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu unterstützen, wobei Sitzungen zu Themen wie Nahrungsmittelkrise, Ausbeutung und Klimawandel abgehalten wurden. Für die Öffentlichkeit – zumindest für jene, die in Davos dabei sein konnten – wurde das Open Forum geschaffenExterner Link.

Inzwischen sind die Volkswirtschaften der Welt stark miteinander verbunden und voneinander abhängig, da die Lieferketten dank enormer technologischer Fortschritte länger und komplexer geworden sind.

Während globale Unternehmen ihre Waren im Zickzack-Kurs um die Welt schicken und immer mächtiger werden, schwächeln die Regierungen. Aus nationalen Bürgerinnen und Bürgern seien globale Konsumierende geworden, schrieb der Politikwissenschaftler Samuel Huntington 2004 in einem EssayExterner Link über die Entnationalisierung der amerikanischen Elite.

Die «Davos-Men», die «oberste Teppichetage» («gold-collar workers») und «Kosmokraten», wie Huntington die aufstrebende Klasse von Globalisierungsgewinnern nannte, wurden zunehmend als Problem angesehen.

Eine Gegenbewegung setzte ein, die sich stark populistischer und nationalistischer Rhetorik bediente. «Es herrschte das Gefühl, dass die Wall Street, Hollywood und die kosmopolitische Elite die Welt regierten, und Leute wie Donald Trump und Marine Le Pen erkannten, dass sich die Menschen zunehmend ausgegrenzt fühlen», sagt Daniel Warner, schweizerisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und ehemaliger stellvertretender Direktor des Geneva Graduate Institute.

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Rückkehr zum Nationalismus

Die Gegenreaktion erwies sich aber als milde im Vergleich zu dem, was kommen sollte. Der Krieg in der Ukraine und die Corona-Pandemie sind die jüngsten Krisen, welche die Vorzüge der WEF-Sicht auf die globale Wirtschaftsordnung in Frage stellen.

Das letzte Mal, als sich die Eliten in Davos versammelten, war im Januar 2020. Rund einen Monat später erklärte die Weltgesundheits-Organisation den Covid-19-Ausbruch zu einer Pandemie.

Von der Krise in Wuhan war in den Hallen des Davoser Kongresszentrums damals nur ein leises Raunen zu vernehmen. Die Pandemie veränderte aber rasch das Leben von Milliarden von Menschen und veranlasste das WEF, sein jährliches Treffen in Davos zwei Mal in Folge abzusagen – ein Novum in seiner rund 50-jährigen Geschichte.

Als das erste Programm für 2022 im Januar vorgeschlagen wurde, schien eine russische Invasion in der Ukraine noch unwahrscheinlich. Doch wenige Wochen später mussten die Organisator:innen umdisponieren. Sie wechselten das Motto: Von «Working Together, Restoring Trust» zu «History at a Turning Point: Government Policies and Business Strategies».

«Was wir erleben, ist eine umgekehrte Globalisierung», sagt Politikwissenschaftler Warner. «Bestimmte Staaten kehren zu einem aggressiven Nationalismus zurück, zum Beispiel Frankreich mit den Gilets Jaunes oder auch Russland und Wladimir Putin. Die Menschen fühlen sich ausgegrenzt und haben keine emotionale Bindung zur Globalisierung mehr.»

Der Krieg und die Pandemie hatten und haben schwerwiegende Folgen. Trotz der Zusagen, dass Covid-Impfstoffe und -Behandlungen globale Gemeinschaftsgüter sein sollten, überboten sich die Länder gegenseitig, um als erste daran zu gelangen. Dies traf nicht die Milliardäre, sondern Millionen von Menschen, die um den Zugang zu erschwinglichen Impfstoffen kämpfen musstenExterner Link.

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Die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern – von Medikamenten und Weizen bis hin zu Öl – ist unterbrochen worden. Das hat die bestehenden Ungleichheiten noch verschärft. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind zwei der grössten Getreideexporteure der Welt durch Kämpfe und Sanktionen destabilisiert worden.

Expert:innen beim Welternährungs-Programm schätzen, dass der Konflikt und seine Auswirkungen auf die Lebensmittel- und Kraftstoffpreise 47 Millionen Menschen an den Rand einer Hungersnot treiben werden.

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Angesichts dieser Krisen und der Klimakatastrophe haben sich viele Länder nach innen gewandt, um ihre eigene Versorgung und Bevölkerung zu schützen, indem sie Exportverbote verhängten und die heimische Industrie absichern.

«Die Geschichte der Globalisierung war schon immer eine Art Tauziehen zwischen den Befürwortenden von mehr Integration und Offenheit und ihrer Gegnerschaft», sagt Wirtschafts-Experte Bach.

«Im Moment sind die Kräfte gegen die Globalisierung eindeutig stärker, weil nicht nur Demagogen und Populisten dahinterstehen. Die Versorgungsprobleme, die durch die Pandemie und nun den Krieg verursacht wurden, sind für viele Menschen absolut real.»

Selbst bei den Gewinnern herrscht Zweifel

Selbst die Gewinner des offenen Welthandels – die multinationalen Konzerne – geraten zunehmend in Konflikt mit dem Globalisierungsnarrativ. Sie stehen unter Druck von Mitarbeiter:innen, Kund:innen, Regierungen und sogar ihren eigenen Aktionär:innen. Diese verlangen, dass die Unternehmen für eine bestimmte Seite oder Ideologie Partei ergreifen. Denn die Geopolitik hat die Welt in wenige grosse Handelsblöcke aufgeteilt.

«Die Zeiten, in denen ein multinationales Unternehmen einfach so in Land X oder Land Y gehen kann, sind vorbei», sagt Warner. «Unternehmen werden vermehrt mit Szenarien wie in Russland und China konfrontiert, wo Geschäftemachen einen hohen Preis hat.»

Christoph Franz, Verwaltungsratspräsident des Schweizer Pharmakonzerns Roche, sagt, dass Roche eine «stärkere Lokalisierung der Wertschöpfung» feststelle und davon ausgehe, dass Unternehmen die Risiken der Globalisierung deutlicher in den Fokus nehmen und «der Sicherheit der Lieferkette in Zukunft mehr Bedeutung beimessen werden».

Sanktionen und Probleme in der Lieferkette haben grundlegenden Annahmen in Frage gestellt, welche für Geschäftsentscheidungen lange massgebend waren. Um in China, der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt, Geschäfte zu machen, wird von den Unternehmen zunehmend erwartet, dass sie Xi Jinpings Pläne zur Abkopplung der Grossmacht vom Westen, zur Autarkie und zum Aufbau einer auf China ausgerichteten Wirtschaftsordnung mittragen.

«Viele politische Entscheidungstragende, Wirtschaftsführerinnen und -führer stellen sich auf die Seite der Befürwortenden der Deglobalisierung, weil es entweder politisch sinnvoll oder wirtschaftlich vorteilhaft für sie ist», sagt Bach.

Ein Grossteil der Welt will ein neues Narrativ mit neuen Paradigmen, und dieser Ruf erschallt nicht nur von der Gegnerschaft der Globalisierung. Länder wie China wollen neu definieren, wie die Welt funktioniert. Und auch die Unternehmen mit Kundschaft und Mitarbeitenden in aller Welt suchen nach einer neuen Identität.

«Die Vorstellung eines globalen Dorfs löst sich auf», sagt Warner. «Das Ideal, Unternehmen und die Politik zusammenzubringen, wird von vielen als elitär angesehen. Und die Idee, dass diese Menschen das Problem lösen und Frieden bringen können, wird in Frage gestellt.»

Neue Stimmen am WEF

Kann das Weltwirtschafts-Forum die Probleme der Globalisierung lösen? Oder ist der «Geist von Davos» endgültig verschwunden?

«Das WEF hat wirklich wertvolle Dinge zu bieten. Aber wenn es weiterhin ein exklusiver Club von sehr reichen Leuten bleibt, die von den meisten normalen Menschen nicht verstanden werden, wird es weiter an Unterstützung verlieren», sagt Gretta Fenner, Geschäftsführerin des Basel Institute on Governance. «Wo sind die messbaren Aktivitäten, und wo ist die Rechenschaftspflicht für all die Erklärungen und Verpflichtungen, welche die Führungsfiguren am WEF abgeben?»

Trotz der Behauptung, das WEF sei inklusiver geworden, kann die Mitgliedschaft bis zu 600’000 Dollar pro Jahr kosten. Und zum Forum haben weiterhin nur geladene Gäste Zutritt.

Geschäftsführende fliegen weiterhin in ihren Privatjets ein, obwohl sie sich verpflichtet haben, den Klimawandel einzudämmen. Viele der wichtigen Treffen finden inoffiziell und hinter verschlossenen Türen statt, und die Namensschilder sind immer noch farblich gekennzeichnet, um den Status zu kennzeichnen.

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Aber ohne die grossen Namen und Mächte, die dieses Mal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, könnten neue Stimmen und Perspektiven Gehör finden. Griechenland hat angekündigt, dass es in Davos zum ersten Mal ein griechisches HausExterner Link haben wird.

Indien hat im Vorfeld der WEF-Woche für mehrere Veranstaltungen geworben. Und der afrikanische Kontinent wird mit seiner bisher grössten Präsenz, mit sieben Staatsoberhäuptern und einer Vielzahl von Ministern, auf der Veranstaltung vertreten sein.

«In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Welt in vielerlei Hinsicht in einer Zwickmühle befindet, halte ich es für eine gute Idee, Menschen zusammenzubringen und sie mit einigen dieser Fragen zu konfrontieren», sagt Bach.

«Das bedeutet nicht, dass ich hohe Erwartungen hege, dass Lösungen für die dringendsten Probleme gefunden werden, aber ich glaube, dass persönliche Treffen durchaus ihren Platz haben und konzertierte Anstrengungen derjenigen, die am WEF teilnehmen, etwas bewirken können.»

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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