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Der Bub aus Borneo, der Schweizer Nationalrat wurde

Alois Wyrsch (historische Zeichnung)
Alois Wyrsch ist mit sieben Jahren in die Schweiz gekommen und hat es bis zum Nationalrat geschafft Staatsarchiv Nidwalden

Alois Wyrsch war der erste Parlamentarier of Colour der Schweiz. Das ist weitgehend unbekannt. Was das über unsere Geschichtsschreibung aussagt.

Es ist nicht lange her, da erfuhr ich von Alois Wyrsch, dem ersten nicht-weissen Parlamentarier der Schweiz – wahrscheinlich sogar Europas. 1860 bis 1872 sass er für den Kanton Nidwalden im Nationalrat.

Während meiner Schulzeit in Stans jedoch hatte ich nie von ihm gehört. Auch nirgends sonst in Nidwalden hatte diese Figur je eine Rolle gespielt. Das verwundert.

Wyrschs Geschichte hängt unweigerlich mit den kolonialen Machenschaften seines Vaters Louis zusammen. 1814 stellte sich dieser als Söldner in die Dienste der holländischen Armee, nahm an der Schlacht bei Waterloo teil und wurde zehn Jahre später Militär- und Zivilkommandant der Süd- und Ostküste Borneos. Dort diente ihm Ibu Silla, eine Einheimische, als «Njai», als Haushälterin und Sklavin. Mit ihr zeugte er drei Kinder. Eines davon war Alois.

Alois war sieben Jahre alt, als er mit seinem Vater und seiner vierjährigen Schwester Konstantia über Rotterdam in die Schweiz reiste. Die beiden Kinder sprachen bei ihrer Ankunft in Nidwalden lediglich malaiisch und holländisch.

Also wurde Alois vom sprachbegabten Kaplan Mathis von Rickenbach unterrichtet. Bei Konstantia ist dazu nichts bekannt. Über sie weiss man lediglich, dass sie in Buochs, wo die Familie lebte, Theater spielte, dass sie eine Ehe mit einem untreuen Mann führte und in die USA auswanderte.

Vom Einwanderer zum Nationalrat

Alois wurde Müller, arbeitete in Alpnach und Ennetbürgen. Auch politisch war Alois Wyrsch engagiert. 1858 wurde er in die Nidwaldner Kantonsregierung gewählt, 1860 folgte der Sprung aufs nationale Parkett, und während 12 Jahren sass er als gemässigter Liberaler im Nationalrat.

Wyrschs Geschichte ist aussergewöhnlich – selbst in unserer Zeit. Noch heute haben wenige Parlamentarier:innen Migrationshintergrund. Umso erstaunlicher ist es, dass Wyrsch in der Geschichtsschreibung praktisch permanent übergangen wurde. Überhaupt hatten bei Wyrschs alle, die nicht weiss und männlich waren, schlechte Karten, um im historischen Gedächtnis zu bleiben.

Konstantia Wyrsch (Foto)
Über die Geschichte von Konstantia Wyrsch ist noch weniger bekannt, als über ihren Bruder. Staatsarchiv Nidwalden

Das zeigt ein Blick in den Wyrsch-Nachlass im Nidwaldner Staatsarchiv. Dort finden sich kistenweise Briefe und Tagebücher, in geschwungener, kaum leserlicher Schrift.

Und es findet sich eine Reihe maschinengetippter Recherchen, in welchen sich motivierte Familienchronisten mit ihren Vorfahren beschäftigt haben.

Während dem Söldner Louis Wyrsch darin seitenweise Recherche gewidmet wurde, hatte man für seinen Sohn, dem in Borneo geborenen Nationalrat Alois Wyrsch, nur wenige Sätze übrig. Für seine Schwester Konstantia lediglich einen.

Herausgeschnitten und geschwärzt

Mann fokussierte sich auf die so genannten Helden. Auf die «Abenteurer», die auszogen, unbekanntes Land «zu erobern» und «den Wilden» «Zivilisation» zu bringen. Und dementsprechend auf «Borneo-Louis». Fairerweise muss dazu gesagt werden, dass von ihm aussergewöhnlich viel Material in Form von Tagebüchern und Briefen überliefert ist.

Doch auch vom Sohn, Alois Wyrsch, wären sehr viele Briefe vorhanden. Diese jedoch blieben in den Recherchen eher liegen. Der Fokus ist bezeichnend für die Art, wie in den vergangenen Jahrhunderten Geschichte geschrieben wurde.

Familienchronik
In den Familienchroniken geht es grossmehrheitlich um die männlichen und weissen Mitglieder. Staatsarchiv Nidwalden

Erst in den letzten Jahren hat man sich mit mehr als nur «Borneo-Louis» genauer auseinandergesetzt. So hat sich zum Beispiel die Obwaldner Künstlerin Olivia Abächerli in einer Ausstellung intensiv mit Alois’ Mutter Ibu Silla beschäftigt.

Dabei ging sie vor allem auf die blinden Flecken der Geschichte ein. Denn Ibu Silla wurde in den Tagebüchern ihres «Herren» grossflächig herausgeschnitten oder geschwärzt.

«Indische Raritäten» über dem Kamin

André Holenstein ist Historiker und hat zur Wyrsch-Dynastie eine spezielle Beziehung. Seine Frau ist eine direkte Nachfahrin von Louis Wyrsch. Er erzählt von «indischen Raritäten», die der Söldner von Borneo mitgebracht hatte. Einiges war vor ein paar Jahrzehnten noch im Besitz der Familie.

«Geschichte ist der gegenwärtige Umgang mit der Vergangenheit.»

André Holenstein, Historiker

Er erinnere sich an einen Schild über dem Kamin seiner Schwiegereltern. «Dazu gab es gute Geschichten zu erzählen, verrückte Geschichten», so Holenstein.

Die Mutter der beiden Kinder, Ibu Silla, erhielt in diesen Geschichten den holländischen Namen Johanna van den Berg, man erzählte sich, sie auf der gemeinsamen Überfahrt gestorben, oder in ganz wilden Erzählungen war sie gar eine Inselprinzessin gewesen.

So wurden die Heldengeschichten über Generationen wiedergegeben und Erinnerungen dabei zurechtgestutzt.

Holenstein betont dabei: «Geschichte ist nicht Vergangenheit, wie gerne behauptet wird. Geschichte ist der gegenwärtige Umgang mit der Vergangenheit.» Natürlich gebe es spannende Geschichten von People of Color in der Schweiz, oder von Frauen.

Heute, da Minderheiten mehr Präsenz erhalten, da Sexismus und Rassismus gesellschaftlich stärker wahrgenommen und hinterfragt werden, kommen diese Geschichten ans Licht. «Doch es wurde lange nicht nach diesen Geschichten gefragt», so Holenstein. Auch er wisse sehr viel mehr über den Söldner Louis Wyrsch, als über den Politiker Alois Wyrsch.

Viele Unklarheiten

So stellen sich Holenstein im Fall Wyrsch viele offene Fragen. Zum Beispiel, welche Positionen Alois Wyrsch in der Politik vertreten hatte. Wie er sich zur Niederlassungsfreiheit oder zum Umgang mit dem und den «Fremden» geäussert hatte. In welcher Richtung er die Nidwaldner Politik vielleicht beeinflusst hatte. Alles Dinge, die von seinem Vater durchaus bekannt sind.

Louis Wyrsch (Gemälde)
Dem Söldner Louis Wyrsch wurde in der Geschichtsschreibung mehr Platz eingeräumt als seinen Nachkommen. zVg

Spannend wäre auch: Inwiefern hat die Herkunft der beiden Kinder ihr Leben in der Schweiz allgemein beeinflusst, ihre Beziehungen, ihre Identität, ihre Karrieren?

Wurden sie anders behandelt, oder war der Familienstand wichtiger? Was geschah mit Ibu Silla? Wie gingen der Vater und die Kinder mit der Abwesenheit der Mutter um? Wie war ihre Beziehung zueinander?

Wie viele solcher Kinder wurden so gezeugt, wie viele blieben zurück, was wurde aus ihnen, welchen Stand hatten sie in der kolonialisierten Welt, und wie viele von ihnen kamen nach Europa?

Gegen die männliche Geschichtsschreibung

Der Historiker Bernhard Schär, der sich intensiv mit diesem Fall beschäftigt hat, sieht ihn als exemplarisch für das Funktionieren von «Geschichte» und für den Umgang der Schweiz mit ihren historischen Verflechtungen.

«Wenn sich die Perspektive auf die Geschichte verändert, verändert sich alles: Fokus, Fragen und Interpretation», so Schär. Man finde nicht einfach ein neues Puzzle-Teil, um es bisherigen Erzählungen hinzuzufügen, sondern alles, was bisher erzählt wurde, erscheine in einem anderen Licht.

Der Held, der Karriere in der Fremde machte, der zähe Hund, der Kriege überlebte, ist auch Profiteur einer versklavenden, kriegstreibenden Kolonialmacht. – Seine «Konkubine», die aus den Quellen und dem historischen Gedächtnis getilgt wurde, wird zur Akteurin und, obschon versklavt, zur Mitgestalterin einer schweizerischen Globalgeschichte.

Was alles nicht bedeutet, dass man den Helden nun verteufeln muss, ihn aus den Geschichten herausschneiden oder schwärzen soll. «Es bedeutet lediglich, ihn zu dezentrieren», so Schär. Das heisst, die Beziehungen, die er mit Menschen wie Ibu Silla einging, mitzuerzählen.

Das gilt exemplarisch auch für die Geschichte der Schweiz. «Wir verstehen sie nur, wenn wir sie als Ergebnis von kolonialen Verflechtungen und damit von Beziehungen zu unzähligen kolonisierten Menschen begreifen, die unsere gemeinsame Vergangenheit mitgestaltet haben», sagt Schär. Der springende Punkt sei, dass wir von einer europäisch männerzentrierten Geschichte wegkommen.

(Der Artikel erschien erstmals bei Kultz.ch am 2.2.2022)

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