«Russland verletzt permanent die Völkermordkonvention»
Der ehemalige Anwalt von Nelson Mandela will ein Sonderstrafgericht betreffend die Ukraine einrichten. Er ist überzeugt, dass die Schweiz der Ukraine zu Gerechtigkeit verhelfen kann.
Irwin Cotler ist ehemaliger Generalstaatsanwalt Kanadas und vertrat Nelson Mandela als Anwalt. Als einziger der in unserer Serie über Kriegsverbrechen in der Ukraine interviewten Experten:innen stuft er die russische Aggression als möglichen Völkermord ein.
SWI swissinfo.ch: Als Staatschef geniesst der russische Präsident Wladimir Putin diplomatische Immunität. Wer könnte ihn anklagen?
Irwin Cotler: Wenn es um internationale Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, geniesst Putin keine diplomatische Immunität.
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Was wir jetzt brauchen, ist ein unabhängiges internationales Gericht für das Verbrechen der Aggression, weil dieses im bestehenden Rechtsrahmen nicht verfolgt werden kann und Putin insofern hier Immunität geniesst.
Russland war ab 2015 in den Syrien-Krieg involviert. Hunderttausende Menschen starben. Bashar al-Assad ist immer noch Präsident. Gibt es Parallelen?
Sowohl bei Assad als auch bei Putin hat die internationale Gemeinschaft eine Kultur der Kriminalität und Straflosigkeit zugelassen. Die internationale Gemeinschaft griff nicht ein, als Russland Tschetschenien überfiel, in Georgien einmarschierte, die Krim annektierte und Syrien bombardierte.
Putin mag sich gedacht haben: Wenn die internationale Gemeinschaft bei all diesen Angriffen nichts unternommen hat, warum sollte es sie dann interessieren, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert?
Aus alldem können wir lernen, wie gefährlich Gleichgültigkeit und Untätigkeit gegenüber massenhaften Gräueltaten oder gar Völkermord sind. Und dass wir eine Verantwortung für Prävention und Schutz tragen.
Tatsächlich verstösst Russland in drei Bereichen gegen die Völkermordkonvention: Erstens, indem es direkt und öffentlich zum Völkermord aufruft. Dies ist ein permanenter Verstoss gegen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, unabhängig davon, ob es tatsächlich zu Völkermordhandlungen kommt oder nicht. Das hat der Oberste Gerichtshof Kanadas festgehalten.
Zweitens lässt sich aus den von Russland geplanten und ausgeführten Massengräueltaten auf eine genozidale Absicht schliessen. Und drittens haben das Verbrechen der Aggression, die Aufstachelung und die Gräueltaten die Gefahr eines Völkermords geschaffen.
Die Vertragsstaaten der Völkermordkonvention sind verpflichtet, diesen zu verhindern und das ukrainische Volk zu schützen. Dabei handelt es sich um eine eigenständige Verpflichtung. Man muss nicht darauf warten, dass der Völkermord tatsächlich begangen wird.
Wie soll es weitergehen, nachdem die Welt gesehen hat, was der Krieg Russlands in der Ukraine angerichtet hat?
In einer idealen Welt würden wir den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen und die Täter zur Rechenschaft ziehen.
In der Realität gibt es eine Reihe von Initiativen: So hat der Internationale Gerichtshof Russland in einem vorläufigen Urteil aufgefordert, seine Aggression zu beenden und sich aus der Ukraine zurückzuziehen.
Zu nennen sind zweitens die laufenden Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Drittens die Strafverfolgung nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit und viertens die laufende Strafverfolgung durch die Ukraine selbst.
Auch könnte man ein unabhängiges Tribunal einrichten, um das Verbrechens der Aggression zu verfolgen. Denn das Verbrechen der Aggression fällt nicht in die Gerichtsbarkeit der oben aufgezählten Ansätze.
Können neutrale Länder wie die Schweiz der Ukraine zu Gerechtigkeit verhelfen?
Zusammen mit Hans Corel, ehemaliger Rechtsberater der Vereinten Nationen, und David Crane, ehemaliger Sonderstaatsanwalt für Sierra Leone, habe ich in der Ukraine Task Force des Global Accountability Network ein Statut für ein unabhängiges Tribunal ausgearbeitet.
Der Entwurf sieht die Schaffung eines solchen Tribunals durch die UNO-Generalversammlung vor. Und zwar auf der Grundlage eines Abkommens zwischen der UNO und der ukrainischen Regierung. Der Schwerpunkt soll auf der Verfolgung des Verbrechens der Aggression gemäss der Definition des Römer Statuts liegen.
Die Schweiz kann zusammen mit anderen europäischen Ländern sicherlich eine Rolle bei der Schaffung eines solchen Tribunals spielen.
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