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«Die Auslandschweizer wurden als Musterpatrioten präsentiert»

Schweizer Kinder kehren während des Zweiten Weltkriegs 1944 bei Boncourt aus Frankreich zurück in die Schweiz. RDB

Wie hat sich die Fünfte Schweiz im Lauf der Zeit verändert? Dieser Frage geht Rudolf Wyder in seinem Buch zum Thema "100 Jahre ASO" nach. Wyder war von 1987 bis 2013 Direktor der Auslandschweizer-Organisation (ASO).

Herr Wyder, Sie sind mit Ihrem Werk zum Thema «100 Jahre ASO» in den letzten Zügen. Anfang August soll das Buch erscheinen. Stiessen Sie bei der Recherche eigentlich noch auf Fakten, die Sie als langjähriger Direktor noch nicht kannten?

Rudolf Wyder: Auf jeden Fall. Zwar war ich lange Zeit Direktor der ASO, aber es gab viele weisse Flecken in der Geschichte, die ich nicht zuletzt aus persönlichem Interesse füllen wollte. Es gab Phasen, die historisch noch nie aufgearbeitet worden waren.

Welche Rolle spielte die Organisation zu Beginn und während des Ersten Weltkriegs? Welche vor allem auch während des Zweiten Weltkriegs? Diese Fragen waren bisher nie beantwortet worden.

Wo fanden Sie die Informationen für das Buch?

R.W.: Den Einstieg bildeten die Jahresberichte der ASO ab 1919. Wichtig waren auch die Berichte und Botschaften des Bundesrats sowie die Protokolle des Parlaments. Ausserdem hat die ASO ein reichhaltiges Archiv, das im Bundesarchiv deponiert ist.

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Wie kam es vor 100 Jahren zur Gründung der ASO durch die Neue Helvetische Gesellschaft?

R.W.: Das zentrale Motiv hinter der Entstehung der ASO war Patriotismus. Intellektuelle, die befürchteten, die Schweiz könne auseinanderfallen, gründeten 1914 die Neue Helvetische Gesellschaft (NHG).

Sie beobachteten mit Sorge, wie sich die Deutschschweiz und die welsche Schweiz im Krieg mit den Nationen ihrer jeweiligen Sprache solidarisierten. Das hätte das Ende der Schweiz bedeuten können.

Dem setzten die NHG-Gründer einen gesamteidgenössischen Patriotismus entgegen, der auch die Auslandschweizer miteinschliessen sollte. 1916 entstanden die ersten NHG-Gruppen im Ausland, 1917 wurde die Auslandschweizer-Kommission gegründet, zwei Jahre später ein Sekretariat für die Auslandschweizer. Ab dann gab es eine funktionierende Organisation.

Was waren die konkreten Aufgaben der ASO?

R.W.: Die Anbindung der Auslandschweizer an die Schweiz und die Information über die Position des Landes als neutraler Staat waren die vordringlichsten Aufgaben. Dann griff die ASO allmählich auch besondere Anliegen der Auslandschweizer selbst auf. So setzte sie sich zum Beispiel ab 1919 für das Anliegen der NHG-Gruppe Athen ein, die Eröffnung einer Botschaft in Griechenland zu erwirken.

Rudolf Wyder Courtesy of ASO

Der Auslandschweizer wurde bei der ASO zu Beginn idealisiert. Er wurde geradezu heroisiert. Warum?

R.W.: Die Auslandschweizer sollten den Schweizern ein Vorbild sein – als unerschrockene Pioniere und vor allem als Patrioten: Schaut, diese Schweizer sind zwar Welsche, Deutschschweizer oder Tessiner. Aber im Ausland verstehen sie sich vor allem als Schweizer. Im Bestreben, das Land vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, wurden sie als Musterpatrioten präsentiert.

Wohin verschlug es einen typischen Auslandschweizer 1916?

R.W.: Die Schweiz erlebte seit dem späten 19. Jahrhundert eine grosse Auswanderungswelle – auch wenn die Zeit des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 davon ausgeschlossen war.

Und die Zielländer waren damals nicht wesentlich andere als heute. Ein grosser Teil der Auswanderer zog in ein Land innerhalb Europas. Allerdings wurden sie in der Statistik zu Beginn gar nicht erfasst – nur jene, die ein Schiff in Richtung Amerika oder Australien bestiegen.

Eine interessante Auffassung von Inland und Ausland …

R.W.: Stimmt, die grossen Schweizer Gemeinschaften in Frankreich und Deutschland standen zu Beginn nicht im Fokus der Behörden. Sie wurden erst ab 1926 in der Auslandschweizerstatistik erfasst.

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Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen den Auswanderern von damals und heute?

R.W.: Ein entscheidender Unterschied ist: Wer früher auswanderte, war in der Regel weg und kehrte nicht mehr zurück. Man muss sich vorstellen: Ein Brief aus Australien brauchte damals viele Wochen, um in der Schweiz anzukommen. Es gab kein Internet, um sich zu informieren und zu kommunizieren, und auch das Reisen war viel umständlicher.

So gab es nur sehr wenige Rückkehrer. Heute ist der Charakter der Schweizer Diaspora völlig anders. Sie ist viel näher an die Schweiz gerückt. Die Welt ist kleiner geworden, die Distanz hat sich praktisch auf die Zeitverschiebung reduziert. Viel mehr Schweizer kehren deshalb auch zurück in ihre alte Heimat.

Haben sich die Aufgaben der ASO im Lauf der Zeit verändert?

R.W.: Die Instrumente und Formen der Aktivitäten haben sich natürlich gewandelt, aber die drei wichtigsten Aufgabenbereiche sind geblieben: Dienstleistungen für die Auslandschweizer, Kommunikation und die Vertretung der Interessen der Diaspora in der Schweiz. Letztere hat in den vergangenen 20 Jahren stark an Bedeutung gewonnen.

Auslandschweizer-Organisation (ASO)

Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) vertritt in der Schweiz die Interessen der fast 750’000 Auslandschweizerinnen und -schweizer. Sie informiert die Landsleute im Ausland über das Geschehen in der Schweiz und bietet ihnen eine breite Palette von Dienstleistungen an.

Die 1916 gegründete Organisation wird von rund 750 Schweizervereinen und schweizerischen Institutionen in aller Welt getragen.

Gab es Zeiten, in denen die ASO in Frage gestellt wurde?

R.W.: Ihre Existenzberechtigung wurde eigentlich nie bezweifelt. Es gab aber Zeiten, in denen die ASO ökonomisch den Gürtel so eng schnallen musste, dass die Frage im Raum stand, ob sie ihre Aufgaben weiterhin wahrnehmen könnte.

Ab und zu gab es auch Anfechtungen von innen, als einzelne Schweizer Gruppierungen im Ausland die Arbeit der Organisation kritisierten. In den 70er- und 80er­Jahren zum Beispiel vertrat eine Gruppierung vehement die Auffassung, die ASO müsse sich strukturell anders aufstellen, und zwar ein staatliches Organ werden und den Auslandschweizerrat direkt wählen.

Wie ist die Beziehung der ASO zu den weltweit rund 750 Schweizer-Vereinen?

R.W.: Sie ist über weite Strecken locker. Intensiv ist der Austausch nur mit einzelnen besonders aktiven Vereinen und natürlich mit den grossen Dachorganisationen in Europa. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Mitglieder der Auslandschweizer-Kommission seit 1959 von den Schweizer-Vereinen gewählt werden.

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Seit 1992 dürfen Auslandschweizer brieflich abstimmen und wählen. Seither ist auch der Informationsauftrag des Bundes gegenüber der Diaspora bezüglich Abstimmungsvorlagen gesetzlich verankert. Diesen Auftrag erfüllen die von der ASO herausgegebene «Schweizer Revue» (und swissinfo.ch, N.d.R.). Wie sehen Sie die Rolle der «Revue» als politische Meinungsbildnerin heute?

R.W.: Die «Schweizer Revue» ist nach wie vor unentbehrlich. Sie ist das einzige Medium, das sämtliche im Ausland angemeldete Schweizer erreicht und diese auf ihre Rechte und Pflichten aufmerksam macht – insbesondere auf ihre politischen Mitwirkungsmöglichkeiten.

Das ist auch im Zeitalter des Internets unverändert wichtig. Klar, man kann sich jegliche Infos aus dem Netz holen, aber dazu muss man zuerst wissen, wonach man sucht. Die «Schweizer Revue» wird einem hingegen gebracht. Denn der Bund hat diesbezüglich eine klar definierte Bringschuld.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen, die in naher Zukunft auf die ASO zukommen?

R.W.: Die ASO hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute ein solides Fundament für die Auslandschweizerpolitik im weitesten Sinn haben. Seit letztem Jahr gibt es ein Bundesgesetz über die Auslandschweizer, es gibt ausserdem verschiedene sektorielle Gesetze, die wesentliche Aspekte regeln. Aber deren Weiterentwicklung ist eine Daueraufgabe.

Die wichtigste Herausforderung für die Organisation ist meiner Meinung nach, zusammen mit den Behörden eine Strategie zur zunehmenden Mobilität der Schweizerinnen und Schweizer zu finden. Die Mobilität muss erleichtert werden.

Die ASO muss sich ausserdem den Entwicklungen in der Kommunikation stellen. Und als dritte grosse Herausforderung sehe ich, dass das Potenzial der Auslandschweizer bezüglich Innovation und Netzwerke im Land selbst nach wie vor zu wenig erkannt wird. Die Schweiz muss sich überlegen, wie vom Reichtum, den ihre grosse Diaspora darstellt, besser Gebrauch gemacht werden kann.

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