1918 oder als der Krieg für das IKRK weiterging
Trotz des Waffenstillstands von 1918 ging der Krieg für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) weiter. Die Rückführung der Kriegsgefangenen sollte das IKRK bis Juni 1922 in Beschlag nehmen. Durch den bewaffneten Konflikt entwickelte sich die von Henry Dunant gegründete Institution zu einer Organisation von beachtlichem Umfang.
Hauptmann Charles de Gaulle gerät in der Schlacht um Verdun in deutsche Gefangenschaft und verbringt zweieinhalb Jahre in Deutschland, bis er kurz nach dem Waffenstillstand vom 11. November entlassen wird. Ende November 1918 finden sich seine Spuren im schweizerischen Romanshorn am Ufer des Bodensees. De Gaulle nimmt den Zug nach Genf und leiht sich 5,80 Franken für eine anständige Zugfahrt, da ein Offizier seines Kalibers unmöglich in der dritten Klasse reisen kann!
Von Genf aus erreicht er am 1. Dezember Lyon. An seinen Regimentschef schreibt er: «Zu der immensen Freude über diese Ereignisse, die ich mit Ihnen teile, gesellt sich indes auf meiner Seite, bitterer als je zuvor, das unaussprechliche Bedauern, nicht einen grösseren Anteil daran zu haben […]. Dass ich diesen Sieg nicht mit der Waffe in der Hand erleben durfte, bereitet mir einen Kummer, der mich bis ans Ende meiner Tage begleiten wird.»
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hütet in seinen Archiven nicht nur die Fiche des zukünftigen französischen Präsidenten, sondern auch jene von 2,5 Millionen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs. Im Telegrammstil gesteht der Angestellte der vom IKRK im August 1914 gegründeten Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene, der Name des Capitaine sei zunächst falsch geschrieben worden: «Avions fait erreur et avions demandé pour un de Goutle au lieu de de Gaulle.» Aus den nummerierten Fichen, die das IKRK vor Kurzem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, geht hervor, dass de Gaulle regelmässig schreibt und in Osnabrück interniert ist.
Das IKRK und die chemische Kriegsführung
Am 8. Februar 1918 richtet das IKRK einen feierlichen Appell an die Kriegsparteien, mit dem es diese
dazu auffordert, auf den Einsatz von «erstickenden und giftigen Gasen» zu verzichten. Ohne Erfolg in den beiden Lagern, die sich gegenseitig die Verantwortung für den chemischen Krieg zuschieben. Nach dem Krieg setzt sich das IKRK namentlich im Völkerbund weiterhin für ein absolutes Verbot von Kampfgasen ein. Damit trägt es direkt zur Ausarbeitung des Protokolls vom 17. Juni 1925 über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege (auch Genfer Protokoll genannt) bei.
Quelle: IKRK
Beunruhigende Gerüchte
Millionen von Kriegsgefangenen ist nicht soviel Glück beschieden wie dem Franzosen, für den der Waffenstillstand die fast unmittelbare Freilassung bedeutet. Auf der Verliererseite müssen die Gefangenen den Abschluss eines Friedensvertrags abwarten, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Auf Seiten der Siegermächte sollten die Gefangenen eigentlich unverzüglich zurückgeführt werden, doch Ende Dezember 1918 befinden sich noch immer 200’000 Franzosen in Deutschland (gegenüber 475’000 vor dem Waffenstillstand) und mit ihnen gut eine Million Russen.
In Frankreich «zirkulieren die beunruhigendsten Gerüchte über die Behandlung der französischen Gefangenen», notiert der Historiker Bruno Cabanes in seinem Werk La Victoire endeuillée. Die französische Regierung ersucht das IKRK, eine Gesundheitsmission zu entsenden und vor Ort Nachforschungen anzustellen.
Das in Genf beheimatete Internationale Komitee hat Erfahrung mit Gefangenenbesuchen. Innerhalb von vier Jahren hat das IKRK seine Tätigkeitsfelder ausgebaut. «Die lokale philanthropische Vereinigung, wenig erfahren und vor allem von begrenztem Umfang (10 Mitglieder im August 1914)», wie Daniel Palmieri, Beauftragter für historische Forschungen beim IKRK sie beschreibt, ist zu einer Organisation von beachtlicher Grösse herangewachsen; allein die Zentralstelle für Kriegsgefangene beschäftigt während des Ersten Weltkriegs 3’000 Mitarbeiter.
Die Spanische Grippe greift um sich
Die nach Deutschland entsandten fünfzehn Delegierten kehren erschüttert zurück. «Die auf eiserner Disziplin gründende deutsche Organisation hat vollkommener Willkür Platz gemacht. Die Offiziere mussten sich zurückziehen und sind nur geduldet, wenn sie sich der Kontrolle des Soldatenrats unterwerfen.»
Von der sich anbahnenden deutschen Revolution haben die Schweizer vor allem Negatives zu berichten: «verheerende hygienische Verhältnisse in den Lagern und eine übertriebene Anzahl von Beurlaubungen an Weihnachten».
Plötzlich greift die Spanische Grippe um sich, «die Morbidität erreicht streckenweise 90 % der Gefangenen», sorgen sich die Delegierten. Ein Hungerödem plagt die Kriegsgefangenen, die noch kurz zuvor als Zwangsarbeiter beim Bau von Eisenbahnlinien nahe der Front eingesetzt worden sind, in Zonen, zu denen das IKRK mangels Genehmigung keinen Zutritt hat.
Auch auf deutscher Seite ist man alarmiert über die Lebensbedingungen der 200’000 bis 300’000 Kriegsgefangenen, die in Frankreich seit dem Waffenstillstand grösstenteils für den Wiederaufbau der zerstörten Regionen eingesetzt werden. Im Frühling 1919 entsendet das IKRK zwei seiner fähigsten Kundschafter, Théodore Aubert und Oberstleutnant Edouard Bordier in den Norden und Osten Frankreichs.
«Road trip»
Es beginnt ein veritabler «Road trip» von 2600 km durch die früheren Kampfzonen, von Compiègne bis Armentières und von Meaux bis Verdun. «Die Vermieter von Automobilen waren nicht gerade erpicht darauf, ihre Fahrzeuge in einem kriegsversehrten Land aufs Spiel zu setzen», berichten die beiden Genfer. Auf ihrer Reise werden sie noch die Freuden eines Biwaks unter freiem Himmel kennenlernen, «da die Strasse durch einen unüberwindbaren Schützengraben zerschnitten war; in absoluter Dunkelheit zurückzufahren, kam wegen der vielen Minenlöcher nicht in Frage.»
Bilanz der Mission: Aubert und Bordier finden am Zustand der deutschen Gefangenen nichts auszusetzen und stellen fest, bei den Angehörigen der siegreichen französischen Armee habe der Hass etwas von seiner Schärfe verloren. Ferner gelangen die beiden Delegierten zur zweifellos allzu optimistischen Einschätzung, die Arbeit der Gefangenen im Freien sei weniger beschwerlich als zuvor in den Minen, Häfen und Fabriken.
Monate vergehen und an der Situation der inhaftierten Deutschen ändert sich kaum etwas. Ministerpräsident Georges Clemenceau benutzt sie in der grossen Abrechnung, zu welcher der Versailler Vertrag werden soll, als Druckmittel. Es gilt abzuwarten, bis die deutschen Gefangenen im Januar 1920 auf Kosten der deutschen Armee endlich zurückgeführt werden.
Für das IKRK ist der Krieg indessen noch nicht zu Ende. Die im neuen Sowjetrussland festgehaltenen Gefangenen der deutschen und österreichischen Armee und die Russen in den Händen der Zentralmächte «werden inmitten der politischen Wirren in Zentraleuropa und Russland völlig ihrem Schicksal überlassen», hält Daniel Palmieri fest. Das Komitee wird noch drei Jahre damit beschäftigt sein, 500’000 Kriegsgefangene bisweilen via Japan, Finnland oder das Schwarze Meer zurückzuführen.
(Übertragung aus dem Französischen: Cornelia Schlegel)
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