1991: Das Europa-Dilemma der Schweizer Regierung
Im Jahr 1991 feierte die Schweiz das 700-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft. Die Erinnerung an ihre mythischen Ursprünge kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie angesichts des europäischen Integrationsprozesses desorientiert ist. Neu veröffentlichte Dokumente zeigen, wie der gespaltene Bundesrat über den Europäischen Wirtschaftsraum verhandelte.
«Die Verhandlungen haben sich […] als eine ununterbrochene Reihe von Enttäuschungen erwiesen», schreibtExterner Link der Schweizer Bundespräsident Flavio Cotti am 28. März 1991 an Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz. Delamuraz vertritt zusammen mit Aussenminister René Felber die Schweiz bei den Verhandlungen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).
Die Dokumente, die diesem Artikel zugrunde liegen, wurden am 1. Januar 2022 von der Forschungsstelle DodisExterner Link veröffentlicht, nachdem die im Bundesgesetz über die Archivierung vorgesehene Schutzfrist von 30 Jahren abgelaufen war.
Dodis hat in seiner Online-Datenbank eine Auswahl von rund 1’700 Dokumenten zur Schweizer Aussenpolitik im Jahr 1991 zugänglich gemacht.
Neben Dokumenten zur Europapolitik der Schweiz umfasst die Auswahl auch Themen wie die Beziehungen zu Osteuropa, den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Irak-Krieg, die Mitgliedschaft der Schweiz in den Bretton-Woods-Institutionen, die Aussenwirtschaftsbeziehungen und die Entwicklungszusammenarbeit.
In seinem eher ungewöhnlichen Beitrag fordert der Tessiner Politiker seinen Kollegen auf, die Europastrategie der Schweiz zu überdenken: «Man kann sich in der Tat fragen, ob es nicht besser wäre, die EWR-Verhandlungen so schnell wie möglich abzubrechen.» Cotti ist der Meinung, dass eine direkte Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft «vom Souverän mit grösserer Sympathie aufgenommen werden könnte.»
Neue europäische Dynamik
Seit Ende der 1980er Jahre befanden sich die aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden internationalen Gleichgewichte in einer Krise. Mit dem Zerfall des kommunistischen Blocks wurden die geopolitischen Karten neu gemischt. Die neutrale Schweiz, die es gewohnt war, sich in einer bipolaren Welt zu bewegen, hatte Mühe, eine neue Position zu finden.
Das komplexeste Thema für Bern war die europäische Integration. Bis dahin war die Europapolitik der Schweiz eng mit derjenigen der EFTA verbunden. Der wichtigste Vertrag, der mit der EWG geschlossen wurde, war das Freihandelsabkommen von 1972.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die heutige Europäische Union, wurde 1957 mit dem Vertrag von Rom gegründet. Neben den Gründungsmitgliedern Italien, Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg, Belgien und der Bundesrepublik Deutschland gehörten 1991 auch das Vereinigte Königreich, Dänemark, Irland, Griechenland, Spanien und Portugal dazu.
Die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) wurde 1960 von europäischen Staaten gegründet, die der EWG nicht beitreten konnten oder wollten. Im Laufe der Jahre sind eine Reihe von EFTA-Staaten der EWG/EU beigetreten, insbesondere das Vereinigte Königreich und Dänemark im Jahr 1972. Heute gehören nur noch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz zur EFTA.
Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) ist ein 1992 unterzeichnetes Abkommen, das die Teilnahme der EFTA-Staaten am gemeinsamen europäischen Markt regelt. Die Schweiz ist nicht Mitglied des EWR und ihr Zugang zum Binnenmarkt wird durch verschiedene bilaterale Abkommen mit der EU geregelt.
In den 1980er Jahren jedoch drohte die Dynamik der europäischen Integration die EFTA zu marginalisieren. Brüssel bremste neue Beitritte, um dem Aufbau des Binnenmarktes auf der Grundlage der vier Freiheiten (Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) Vorrang zu geben. In diesem Zusammenhang schlug 1989 der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, eine neue Form der Partnerschaft vor, um den Zugang der EFTA-Staaten zum europäischen Binnenmarkt zu regeln.
Kollision mit der Realität
Ursprünglich schien der EWR, zumindest in den Augen Berns, eine gute Lösung zu sein. Sie ermöglichte es dem Land, an der wirtschaftlichen Integration des Kontinents teilzunehmen und gleichzeitig seine institutionelle Autonomie zu bewahren.
Die geopolitischen Veränderungen, die Europa erfassten, änderten jedoch bald die Richtung der 1990 begonnenen Verhandlungen. «Der Fall der Berliner Mauer verlieh der EWR-Debatte eine völlig andere Dynamik als ursprünglich geplant», erklärt der Historiker Sacha Zala, Direktor von Dodis. «1991 war die Schweiz definitiv mit einer europäischen Realität konfrontiert, die nicht mehr diejenige der 1960er Jahre war.»
Die EFTA-Front zerfiel; das von Österreich und Schweden, den beiden wichtigsten Partnern der Schweiz, verfolgte Ziel eines EWG-Beitritts schwächte die Verhandlungsposition Berns. Die EWG, die heuteExterner Link der «Bezugspunkt für praktisch alle europäischen Länder» ist, war immer weniger bereit, Zugeständnisse zu machen, und stellte neue Forderungen.
Insbesondere stellte Brüssel klar, «dass ein Abkommen über den Transitverkehr als Vorbedingung für den EWR-Vertrag angesehen wird» (ein solches AbkommenExterner Link wurde am 21. Oktober 1991, dem Tag des Abschlusses der EWR-Verhandlungen, erreicht).
Eine gespaltene Regierung
Abgesehen von den inhaltlichen Fragen, wie der Freizügigkeit oder den Umweltschutznormen, blieb der schwierigste Knoten der institutionelle. Die EWG wollte die Kontrolle über die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts behalten und war daher nicht bereit, Entscheidungsbefugnisse an die EFTA-Länder abzutreten. Die Beziehung zwischen den beiden Organisationen war immer weniger die zwei gleichberechtigter Partner.
Die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen mit der EWG führten bald zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Schweizer Regierung. Dies geht aus dem Protokoll einer Bundesratssitzung von Mitte April 1991 hervorExterner Link.
Bei dieser Gelegenheit gaben Jean-Pascal Delamuraz und René Felber zu, dass die Verhandlungen mit der EWG nicht zufriedenstellend waren, versuchten aber zu retten, was zu retten war. Die Schweiz könne nicht den «einsamen Ritter» spielen, bekräftigte Delamuraz, während Felber dazu aufrief, die «vielen positiven Punkte» des Abkommens zu berücksichtigen. Inzwischen entwickelten beide jedoch die Überzeugung, dass der EWR nur eine Übergangslösung im Hinblick auf die EWG-Mitgliedschaft sein konnte.
Dieser Ansicht widersprach Otto Stich: «Ein schlechtes Abkommen sollte niemals als Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden», so der Finanzminister. Er fügte hinzu: «Ein EWR, wie er sich abzeichnet, bedeutet die Satellisierung der Schweiz.» Verteidigungsminister Kaspar Villiger stimmt zu: «Wir bewegen uns auf einen Kolonialstaat mit autonomem Status zu.»
Auch die anderen Bundesräte Arnold Koller, Adolf Ogi und Flavio Cotti brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck, allerdings in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlicher Zielsetzung.
Die europäische Zivilisation und die Banken
In den folgenden Monaten waren die Signale der europäischen Partner:innen alles andere als ermutigend. Im Mai stellte der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher bei seinem Besuch in der Schweiz in deutlichen Worten festExterner Link, dass nur die Mitglieder der EWG ihre nationalen Interessen optimal verteidigen könnten.
Der französische Präsident François Mitterrand, der im Juni in Lugano mit Cotti und Delamuraz zusammentraf, sah das nicht anders: «Wenn Sie in der schönen Isolation bleiben, bleiben dann die Bedingungen dieselben?», fragt erExterner Link seine Schweizer Gastgeber. Und während er seine Vision der europäischen Zivilisation beschwörte, fügte er mit einem Hauch von Häme hinzu: «Man kann eine Zivilisation nicht auf Banken aufbauen.»
In der Zwischenzeit beeinflusste die Frage eines möglichen EWG-Beitrittsgesuchs weiterhin die Verhandlungsstrategie der Schweiz. Ende Mai versuchten Delamuraz und Felber, der Beitrittsperspektive Vorrang einzuräumen, stiessen aber auf den Widerstand einiger ihrer Kollegen, insbesondere von Otto Stich, der die EWG als «noch zu zentralistisch und undemokratisch» ansahExterner Link.
Eine Reflexionsgruppe des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) verfasste Ende Juli ein Dokument, in dem erneut ein baldiger Beitritt zur EWG gefordert wurdeExterner Link: «Die Schweiz ist aufgrund ihrer föderalistischen und demokratischen Traditionen und ihrer Konsenspraxis gefordert, eine führende Rolle zu spielen.»
Die Schweiz, ein widerstrebendes Mitglied Europas
«Europa ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil Europas», sagteExterner Link Flavio Cotti im September in Sils im Engadin im Rahmen der Feierlichkeiten zum 700-jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft. Die pro-europäische Rhetorik der Erklärung konnte jedoch nicht über die Schwierigkeiten der Regierung hinwegtäuschen, eine einheitliche Position zu finden.
Bis zur entscheidenden Verhandlungsrunde am 21. Oktober in Luxemburg waren es nur noch eineinhalb Monate. Die mit dem EU-Dossier betrauten Beamten des Aussen- und des Wirtschaftsministeriums empfahlenExterner Link der Regierung, ihren Standpunkt zum Beitritt so bald wie möglich zu klären und die Ergebnisse der EWR-Verhandlungen zu einem späteren Zeitpunkt zu bewerten.
Doch der Bundesrat liess sich Zeit und tagteExterner Link erst am 19. Oktober. Die Positionen unter den Regierungsmitgliedern lagen noch weit auseinander, die von der Schweiz geforderten Zugeständnisse auf institutioneller Ebene liessen alle unbefriedigt.
Die Beitrittsperspektive
Am Ende setzte sich jedoch die Position von Delamuraz und Felber durch: Ja zum EWR-Vertrag, aber nur als Zwischenschritt zur EWG-Mitgliedschaft. Der Beitritt wurde offiziell zu einem Ziel des Bundesrates.
In der Nacht zum 22. Oktober akzeptierten Delamuraz und Felber die Ergebnisse der letzten Verhandlungen. «Die Perspektive, in die der Bundesrat dieses Abkommen stellt, ist diejenige der Mitgliedschaft», erklärteExterner Link der Aussenminister im November vor der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats. Die Mehrheit der Parlamentarier:innen ist mit der Arbeit der Regierung zufrieden.
Ein Mitglied des Ausschusses mahnte jedoch zur Vorsicht: «Die Abstimmung über den EWR ist noch nicht gewonnen.» Etwas mehr als ein Jahr später, nach einer heftigen Abstimmungskampagne und einer Rekordbeteiligung (78,7%), wurde das EWR-Abkommen von 50,3 % der Stimmenden abgelehnt. Und ein neues Kapitel in der schweizerischen Europapolitik wurde aufgeschlagen.
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