2010: Für die EU ist der Bilaterale Weg am Ende
2010 war für die Schweiz auf europäischer Ebene wenig erfolgreich. Die EU will bei der "Unternehmensbesteuerung" nicht locker lassen und die Beziehungen zur Schweiz als Ganzes neu regeln.
Am 14. Dezember 2010 teilen die EU-Aussenminister schwarz auf weiss ihren Verdruss mit: Mit Blick auf die kantonale Holdingbesteuerung zeigen sie sich sehr besorgt. Die Schweiz schaffe «inakzeptable Wettbewerbsverfälschungen».
Die Schweiz wird ein weiteres Mal gebeten, die Begünstigungen für ausländische Firmen abzuschaffen, welche die EU mit Staatshilfen zugunsten von Unternehmensverlagerungen gleichsetzt und die das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Schweiz von 1972 verletzten.
Die Diskussionen über «schädliche Steuerpraktiken» und eine mögliche Übernahme des EU-Verhaltenskodex zur Unternehmensbesteuerung müssten zwischen der Schweiz und der EU weitergeführt werden.
Die bilateralen Verträge hätten sich vervielfacht, seitdem die Schweiz 1992 einen Beitritt zum EWR abgelehnt habe: Obwohl der Rat die Souveränität und den Entscheid der Schweiz respektiere und das bisherige System der bilateralen Verträge in der Vergangenheit gut funktioniert habe, bestehe die Herausforderung der nächsten Jahre darin, aus dem komplexen System herauszukommen. Es führe zu rechtlicher Unsicherheit, werde schwierig zu handhaben und habe seine Grenzen erreicht.
Damit sich die künftigen Beziehungen auf einer soliden Basis befänden, müssten in verschiedenen Fragen Lösungen gefunden werden, die für beide Seiten akzeptabel seien.
Die EU verlangt die Einführung eines Mechanismus für «dynamische Anpassungen» der Abkommen an das sich weiterentwickelnde EU-Recht, die homogene Anwendung der Abkommen sowie einen unabhängigen Kontroll- und Gerichtsbarkeits-Mechanismus, die bis heute nicht existierten.
Bern dämpft ab
Sind die Verstimmungen der EU-Länder tatsächlich dramatisch? Die Antwort lautet nein, wenn man dem Communiqué Glauben schenkt, das am 14. Dezember 2010 vom gemeinsamen Integrationsbüro des Aussenwirtschafts- und Volkswirtschaftsdepartements publiziert worden ist.
«Aus Schweizer Sicht funktionieren die geltenden bilateralen Verträge insgesamt gut», heisst es. Die Schweiz zeige sich «konstruktiv in Steuerfragen» – sie habe insbesondere bei der Knacknuss der kantonalen Steuern Lösungen vorgeschlagen, welche Italien abgelehnt habe, und sie sei bereit, das Abkommen über die Vermögensbesteuerung neu zu verhandeln.
Gewiss, die Schweiz tut gut daran, die Situation nicht zu dramatisieren, denn der Bilateralismus – welcher der einzig mögliche Weg für die Beziehungen mit der EU sei, gab die helvetische Regierung am 17. September zu bedenken – hat eine Zukunft. Ein Beweis dafür ist unter anderen: Am 20. Dezember haben die Umweltminister die EU-Kommission beauftragt, mit Bern über den Handel mit CO2-Zertifikaten zu verhandeln.
Umgekehrt unterschätzt die Schweiz vielleicht die Entschlossenheit der EU, ihre Beziehungen zur Schweiz in einen neuen Rahmen zu stellen. Das hat sich bereits bei der Blockierung der für die Industrie sehr wichtigen Verhandlungen über die Elektrizität und die Vermarktung chemischer Produkte (Reach) gezeigt.
Gleiche Wellenlänge
Für einmal sprechen die verschiedenen europäischen Institutionen, die zahlreiche Warnschüsse nach Bern abgefeuert haben, die gleiche Sprache.
Mit dem Empfang von Bundespräsidentin Doris Leuthard hatte der Belgier Hermann Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates (das Gremium, das die Staatschefs oder Regierungen der Mitgliedstaaten umfasst) am 19. Juli die Alarmglocke gezogen.
Der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Durão Barroso, ist ihm gefolgt. Er kritisierte in der Folge alle Anstrengungen der Schweiz, das Bankgeheimnis zu retten, insbesondere die bilateralen Verhandlungen mit Deutschland und Grossbritannien.
Nägel mit Köpfen machte das Europaparlament am 7. September, indem es eine Resolution annahm, welche die «Hindernisse» des freien Personenverkehrs durch die Schweiz bemängelte, und indem es die Lösung verschiedener «institutioneller Probleme» verlangte.
Der Druck hat in Bern seine Spuren hinterlassen: Am 18. August wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die den Auftrag hat, mit der EU-Kommission zu sondieren, wie der bilaterale Weg weiterentwickelt, wer die Umsetzung der Abkommen überprüfen und bei Unstimmigkeiten entscheiden könnte.
Ein erster Bericht wurde der Schweizer Regierung übergeben. Brüssel verheimlicht darin nicht die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Parteien.
8. Juni: Die EU-Finanzminister bekräftigen ihre Erwartung, die Übernahme des Verhaltenskodex› über die Unternehmensbesteuerung auf die Schweiz auszuweiten. Im Verhaltenskodex haben sich die EU-Staaten verpflichtet, Steuerpraktiken abzuschaffen, mit denen sie sich gegenseitig Steuereinnahmen abjagen.
17. Juni: Die Schweiz gibt die Umrisse ihrer neue Kommunikations-Strategie zur Image-Verbesserung in Brüssel bekannt.
19. Juli: Bei ihrem Besuch in Brüssel vereinbart Bundespräsidentin Doris Leuthard mit der EU den Einsatz einer Arbeitsgruppe, die Optionen zur Vereinfachung der bilateralen Beziehungen prüfen soll.
7. September: Das EU-Parlament verabschiedet eine Resolution, welche die Schweizer «Hindernisse» des Freien Personenverkehrs kritisiert und eine institutionelle Modernisierung des bilateralen Wegs verlangt.
17. September: Die Schweizer Regierung verabschiedet einen Bericht über die Europapolitik des Landes. Am bilateralen Weg wird nicht gerüttelt.
20. Oktober: Anhörung des Schweizer EU-Botschafters Jacques de Watteville durch die EU-Experten, die den Auftrag haben, einen Bericht über die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel vorzubereiten. Während für die Schweiz der bilaterale Weg «nicht schlecht» funktioniert, geht für die EU-Kommission fast gar nichts mehr.
12. November: Die EU-Kommissarin Viviane Reding sagt in Lausanne, dass die Zeit des bilateralen Wegs zu Ende sei.
15. November: Grosser Empfang in Brüssel anlässlich des 50-jährigen Bestehens der EU-Botschaft der Schweiz. In ihrer Rede rühmt die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey eine «Helvetisierung» der EU.
28. November: Das Schweizer Stimmvolk nimmt die Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer an. Obwohl diese mit dem Abkommen zur Personenfreizügigkeit nicht vereinbar sei, wartet die EU ab.
6. Dezember: Der Gemischte Ausschuss Schweiz-EU, der mit der Umsetzung des Freihandelsabkommens beauftragt ist, trifft sich in Brüssel: Beide Seiten beklagen zahlreiche Hindernisse.
14. Dezember: Die EU-Aussenminister verabschieden ein kritisches Positionspapier über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler
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