«Die Wiedervereinigung war ein Geschenk»
Noch gibt es Ressentiments, noch sind nicht alle Unterschiede überwunden. Deutschland befinde sich 25 Jahre nach der Wiedervereinigung aber auf gutem Weg, sagt Otto Lampe, der deutsche Botschafter in Bern. Es brauche wohl noch eine Generation, bis die beiden Seiten kulturell und wirtschaftlich wieder voll zusammengefunden hätten.
swissinfo.ch: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Joachim Gauck, beide aus der ehemaligen DDR, besetzen die höchsten Posten Deutschlands. Ein Beweis dafür, dass die Wiedervereinigung gelungen ist?
Otto Lampe: Bis auf einige wenige Nostalgiker, die sich das Ancien Régime zurückwünschen, ist der gemeinsame Nenner aller Deutschen in Ost, West, Nord und Süd, dass man für den Erfolg der Wiedervereinigung Deutschlands keinen Beweis braucht.
Die Tatsache aber, dass die beiden höchsten Ämter im Staat von einer Frau und einem Mann besetzt werden, die im Osten Deutschlands aufgewachsen und sozialisiert sind, ist sicherlich ein Grund, sich stärker mit dem vereinigten Deutschland zu identifizieren. Schaut man sich jedoch das Kabinett und die führenden politischen Posten innerhalb Deutschlands an, so ist der Osten immer noch ziemlich untervertreten.
swissinfo.ch: In den neuen Bundesländern sind die Löhne tiefer als im Westen und die Arbeitslosenquote sowie das Armutsrisiko markant höher. Worauf führen Sie diese Unterschiede zurück?
O.L.: Unterschiede in wirtschaftlichen Rahmendaten wie Arbeitslosigkeit und Armutsrisiko findet man in vielen Staaten der Welt. In Alabama etwa ist das Bruttosozialprodukt halb so hoch wie in Maine, und niemand stellt deswegen die Kohärenz der Vereinigten Staaten in Frage. Und im Wallis sind die Löhne auch anders als in Zürich.
Lohnunterschiede sind ein Indikator dafür, dass die Produktivität in gewissen Teilen Deutschlands noch nicht dem Durchschnitt entspricht. Das gilt aber nicht nur für den Osten, sondern auch etwa für Bremen im Westen, wo das Armutsrisiko relativ hoch ist.
Die Unterschiede haben also weniger mit der geografischen Lage, sondern vielmehr mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun.
Beobachtet man den Angleichungsprozess der letzten 25 Jahre, so kann man davon ausgehen, dass in wenigen Jahren vergleichbare Lebensverhältnisse erreicht sein werden.
Deutsche Wiedervereinigung
Die Friedliche Revolution und der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ebneten den Weg für die deutsche Wiedereinigung.
Am 3. Oktober 1990 – 41 Jahre nach der Teilung – trat die DDR der BRD bei.
Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus 16 Bundesländern, darunter die 5 neuen Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Deutschland hat 80 Mio. Einwohner, davon knapp 15 Mio. in den neuen Bundesländern.
swissinfo.ch: Gibt es im Osten Regionen, die florieren und sich in Sachen Infrastruktur und Produktivität positiv entwickeln?
O.L.: Sehr gut entwickelt sich zum Beispiel der Freistaat Sachsen, wo vor allem kleinere und mittlere Unternehmen florieren. Das gilt aber auch etwa für Thüringen oder Brandenburg. Als ich zu Beginn des Jahrhunderts nach Berlin kam, lag die Arbeitslosigkeit bei 21%, jetzt ist sie einstellig geworden, die Abwanderung von jüngeren Leuten ist gestoppt, auch die demografische Situation hat sich verbessert.
swissinfo.ch: Als Botschafter sind Sie auch in Kontakt mit Schweizer Wirtschaftsvertretern: Machen die einen Unterschied zwischen Ost und West, wenn sie in Deutschland investieren?
O.L.: Einige bekannte Schweizer Unternehmen, die in Deutschland schon seit langer Zeit mit Erfolg tätig sind, wie etwa Novartis, Nestle, Stadler oder auch Ems Chemie sehen schon, dass gerade auch in den neuen Bundesländern die Standortbedingungen günstig sind: mit einer guten Infrastruktur, erfolgreich arbeitenden Forschungsinstituten. Hinzu kommen günstige Lohn- und Arbeitskosten. Angesichts dieser Voraussetzungen haben wir den Eindruck, dass einige der dort bereits etablierten Schweizer Unternehmen sich mit dem Gedanken tragen, zu expandieren.
swissinfo.ch: Die Wiedereingliederung der DDR war nicht umsonst. Wie hoch war der Preis, den Deutschland dafür bezahlt hat?
O.L.: Die Wiedervereinigung war ein Geschenk, und die Kosten, welche die Angleichung der Lebensverhältnisse und die Renovierung der Infrastruktur in den östlichen Landesteilen erbracht haben, sind Investitionen in das gemeinsame Land. Es ist wie eine Familie, die zur Renovierung oder zum Anbau des eigenen Hauses investiert hat, und zwar im Sinne einer Win-win-Situation.
swissinfo.ch: Zurzeit erlebt Deutschland eine beispiellose Solidaritätswelle für Flüchtlinge aus Syrien. Etwas aus den Schlagzeilen verschwunden sind die Brandanschläge auf Asylzentren und der Fremdenhass vor allem in Ostdeutschland. Woher kommt eigentlich diese fremdenfeindliche Mentalität in den neuen Bundesländern, wo der Ausländeranteil drei Mal tiefer ist als im übrigen Deutschland?
O.L.: Ich habe nicht den Eindruck, dass diese entsetzlichen Vorkommnisse in Vergessenheit geraten, im Gegenteil: Die Medien sind äusserst wachsam und bringen solche Vorfälle sehr schnell in die Öffentlichkeit. Das ist auch gut so.
Aber diese Übergriffe sind beileibe nicht nur in Ostdeutschland vorgekommen, sondern auch in Westdeutschland, wenn auch in geringerem Umfang. Es ist ein gesamtdeutsches Phänomen, das mir grosse Sorgen macht.
Die Tatsache, dass in Gegenden, wo weniger Ausländer leben, gewisse Ressentiments gegen Fremde vorhanden sind, ist ein Phänomen, das in vielen Ländern zu beobachten ist. Es war zum Beispiel auch in der Schweiz so, dass die Masseneinwanderungs-Initiative dort am meisten Zuspruch hatte, wo die wenigsten Ausländer leben. Das mag damit zu tun haben, dass man noch nicht die Erfahrung gemacht hat, wie es ist, mit Ausländern zusammen zu leben, gewisse Berührungsängste und auch Sorgen um den Erhalt dessen hat, was man als kulturelle Identität versteht.
swissinfo.ch: In Ostdeutschland sind die Verhältnisse aber immer noch schwieriger als im Westen. Sind die Zuwanderer allenfalls die Sündenböcke einer gescheiterten Politik?
O.L.: Die Wohlstandsgewinne überwiegen bei Weitem das Armutsrisiko. Die Tatsache, dass Deutschland ökonomisch auf sehr gutem Weg ist und sich die neuen Länder wunderbar entwickeln, spricht dafür, dass diese Risiken insgesamt abnehmen.
Mag sein, dass der eine oder der andere die Zuwanderer als Bedrohung sieht. Nüchtern betrachtet kommt man aber zum Ergebnis, dass sich alle wirtschaftlichen Indikatoren über die letzten 10, 20 Jahre in den neuen Ländern nachhaltig verbessert haben – trotz Zuwanderung! Wer also die Ausländer für sein Scheitern verantwortlich macht, geht von falschen Prämissen aus.
Die Schweiz zum wiedervereinigten Deutschland
Nach dem Berliner Mauerfall im November 1989 begrüsste der damalige Schweizer Aussenminister René Felber dieses historische Ereignis, das «ohne Gewalt und Polizeiintervention» stattgefunden habe. «Hervorzuheben ist die Genugtuung der Verantwortlichen aller demokratischen Länder angesichts dieser Erweiterung der Freiheit für die Bürger Ostdeutschlands und folglich auch für jene Westdeutschlands», sagte der Bundesrat an einer Pressekonferenz.
Gegenüber swissinfo.ch liess das EDA verlauten, dass die heutigen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem vereinigten Deutschland «zahlreich, vielfältig und ausgezeichnet» seien. «Sie erlauben es, alle Themen gemeinsamen Interessens zwischen den beiden Ländern zu behandeln. Jüngstes Beispiel ist der offizielle Arbeitsbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 3. September in Bern, bei dem die soliden Beziehungen, die zwischen der Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland bestehen, bekräftigt wurden.»
swissinfo.ch: Vor der Wiedervereinigung Deutschlands gab es Stimmen in Europa, die Angst vor einem erstarkten Deutschland äusserten. Heute ist Deutschland sowohl politisch wie auch wirtschaftlich das mächtigste Land Europas. Was bedeutet das für das Gleichgewicht Europas?
O.L.: Europa heute ist viel mehr als das frühere Gleichgewicht der Mächte. Die Europäische Union ist eine höchst erfolgreiche Vereinigung von 28 Staaten, die sich gemeinsam auf den Weg gemacht haben, ihre Souveränität zugunsten eines Friedens- und Wohlstandsprojektes weitgehend aufzugeben. In der EU hat die Stimme Deutschlands genau so viel Gewicht wie die Stimme Luxemburgs oder Maltas.
Deutschland ist zweifellos das wirtschaftlich erfolgreichste und wichtigste Land Europas. Wenn man sich aber die 50 oder 60 Jahre der europäischen Integrationsgeschichte anschaut, sieht man, dass Deutschland seine Rolle nie im Sinne eines Gewichts in die Waagschale geworfen hat, sondern immer versucht hat, mit anderen einen Kompromiss zu finden. Zuletzt geschehen beim Griechenland-Programm, wo Deutschland zu Unrecht vorgeworfen wurde, hegemoniale Kräfte zu entfalten.
Es war nämlich Deutschland, das gegen den Widerstand kleinerer Staaten, die viel härtere Lösungen für Griechenland vorhatten, versucht hat, einen Modus Vivendi zu finden, der sowohl der griechischen Lage wie auch den europäischen Interessen gerecht wurde. Wenn Sie so wollen ist die Rolle Deutschlands in Europa diejenige eines Mediators.
swissinfo.ch: Gemäss einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung Externer Linkfühlen sich «Ossis» gegenüber «Wessis» auch nach einem Vierteljahrhundert vereinigtes Deutschland benachteiligt und deklassiert. Geht ein Bruch durch die deutsche Gesellschaft?
O.L.: Wenn es eine Narbe gab, die durch die Teilung entstanden ist, dann ist diese inzwischen sehr gut verheilt. Solche Umfragen zeigen immer wieder mal, dass es immer noch Menschen gibt, die aus irgendwelchen Gründen frustriert sind und sich das frühere System zurückwünschen, das ist ganz normal. Wir alle neigen zu einer Art kollektiver Amnesie, so dass wir leicht vergessen, wie es früher war. Von daher würde ich in diesem Zusammenhang nicht von Bruch reden, sondern von einem fortgeschrittenen Heilungsprozess.
swissinfo.ch: Und wie lange wird dieser Prozess noch dauern?
O.L.: Es wäre vermessen anzunehmen, dass die deutsche Einheit nach Jahrzehnten der Trennung innerhalb weniger Jahre wieder hergestellt werden könnte. Man hat immer gesagt, dass es mindestens eine gute Generation oder gar zwei Generationen braucht, bis die beiden Seiten kulturell und wirtschaftlich wieder voll zusammenfinden.
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