«1989 erfasste die Schweiz eine Sympathie-Welle für Osteuropa»
Die Berliner Mauer fällt, es herrscht Aufbruchstimmung in Europa. In der Schweiz hegt die Bevölkerung grosse Bewunderung für die ostmitteleuropäischen Länder. 30 Jahre später macht sich Ratlosigkeit breit. Ein Gespräch mit Osteuropa-Historikerin Julia Richers.
Als vor und nach dem Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren die Bürgerinnen und Bürger ehemaliger sozialistischer Volksrepubliken ihre Herrscher vom Sockel stürzen, sympathisiert die Schweizer Bevölkerung mit den Dissidenten im Osten. Das Schicksal der Kleinen, die sich gegen die Grossen behaupten müssen, liegt der kleinen Schweiz am Herzen.
30 Jahre später macht sich Ernüchterung breit. Die illiberale Wende in Ungarn und Polen, der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland oder die Armut, unter der immer noch ein Grossteil der Bevölkerung der ehemaligen „Ostblockstaaten“ leidet, zementiert das Konstrukt des „rückständigen“ Ostens in unseren Köpfen und führt zu Unverständnis.
SWI swissinfo.ch hat mit der Historikerin Julia Richers über das Verhältnis der Schweiz zu Osteuropa gesprochen.
swissinfo.ch: Wie definieren Sie Osteuropa?
Julia Richers: Osteuropa ist ein riesiger heterogener Raum mit einer Bevölkerung von mehr als 300 Millionen Menschen. Sämtliche Versuche, ihn sprachlich, politisch, kulturell, religiös oder historisch abzugrenzen scheitern. Die Bezeichnung ist deshalb irreführend.
swissinfo.ch: … und hoch politisiert.
J.R. Absolut. Es besteht zum Beispiel eine politische Diskussion darüber, welche Länder sich als «Mitte Europas» bezeichnen dürfen. Deutschland beansprucht diese Bezeichnung gerne für sich. Doch bezeichnen sich auch zentraleuropäische Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien oder die Slowakei als mitteleuropäisch.
«Noch heute assoziieren wir Attribute wie ‹rückständig›, ‹barbarisch› oder ‹unzivilisiert› mit Osteuropa.“
Osteuropa ist ein historisch entstandenes, mentales Konstrukt, dessen «Mitglieder» im Laufe der Geschichte immer wieder gewechselt haben. Noch heute assoziieren wir Attribute wie «rückständig», «barbarisch» oder «unzivilisiert» mit diesem Begriff.
swissinfo.ch: Osteuropa liegt vor unserer Haustür. Dennoch habe ich den Eindruck, dass das Interesse an diesen Ländern in der Schweiz eher gering ist. Täusche ich mich?
J.R.: In jüngster Zeit nahmen die für die Schweiz nach der Wende charakteristische Euphorie und Neugierde für Osteuropa deutlich ab. Es herrscht grosses Unverständnis darüber, wie beispielsweise die Menschen in Ungarn Viktor Orbán mit grosser Mehrheit wiederwählen können.
Grundsätzlich würde ich das Interesse als ein Auf und Ab beschreiben. Um nur zwei jüngere Beispiele zu nennen: Die Anteilnahme der Schweiz an den Kriegen in Ex-Jugoslawien war sehr gross. Danach hat sich das Interesse etwas gelegt, nahm aber mit dem Ausbruch des Konflikts in der Krim und der Ostukraine wieder zu. Die Begeisterung für osteuropäische Literatur ist hingegen konstant gross.
swissinfo.ch: Welche Kontakte pflegte die Schweiz vor dem Mauerfall mit Osteuropa?
J.R.: Vor der Wende gab es viele Kontakte auf privater Basis. Menschen, die 1956 während des Aufstands in Ungarn oder 1968 während des Prager Frühlings in die Schweiz geflüchtet waren, hielten Familienkontakte aufrecht. Schweizer und Schweizerinnen schickten Essens- und Kleiderpakete in den Osten. Auch katholische und evangelische Kirchen sowie die Ökumene waren aktiv. Die offizielle Schweiz gab sich neutral, obwohl sie ganz klar dem anti-kommunistischen Lager zuzuordnen war.
swissinfo.ch: Was hat sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs geändert?
J.R.: Die Schweiz wurde von einer grossen Welle der Sympathie für Osteuropa erfasst. Aus zwei Gründen. Einerseits war das Land traditionell anti-kommunistisch und das Ende des Kommunismus wurde dementsprechend gefeiert. Andererseits hat die Schweiz eine gewisse Schwäche für Freiheitskämpfer: Man fühlte sich verbunden mit den Menschen dieser Länder, die es gewagt hatten, ihre Herrscher zu stürzen.
Die Schweiz engagierte sich für den Aufbau demokratischer Strukturen. Der Schweizerische Nationalfonds stellte ein eigenes Förderprogramm auf die Beine, für den Austausch mit osteuropäischen Universitäten. Und Pro Helvetia öffnete Büros zur Kulturförderung.
Die Schweizer Ostzusammenarbeit (© DEZA/SECO):
swissinfo.ch: Einerseits gibt die Schweiz in Osteuropa also Gelder aus, um die Länder auf ihrem Weg zu funktionierenden Rechtsstaaten zu unterstützen. Andererseits machen wir aber auch immer wieder Geschäfte mit Oligarchen aus dieser Region. Ist die Rolle der Schweiz nicht etwas zwiespältig?
J.R.: Die Schweiz befindet sich immer wieder in diesem Widerspruch. Und nicht nur mit Blick auf Osteuropa. Ich denke an das aktuelle Thema des Goldhandels: Da setzt sich die Schweiz aussenpolitisch für den Respekt der Menschenrechte ein, auch in den Ländern, in denen Gold geschürft wird. Und gleichzeitig ist sie die Drehscheibe des weltweiten Goldhandels, einem Geschäft, das immer wieder mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wird.
swissinfo.ch: Bleiben wir noch etwas bei den Geschäften: Wie haben sich die wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz in Osteuropa entwickelt?
J.R.: Die Schweizer Pharmaindustrie kennt eine lange Tradition in Osteuropa. So errichtete Roche bereits im 19. Jahrhundert eine erste Dependenz im russischen St. Petersburg. Nach der Wende interessierten sich Schweizer Firmen vermehrt für die Region und den neu entstehenden Markt. Allerdings waren Firmen aus anderen Ländern wie Deutschland, Japan oder den USA viel intensiver an der Privatisierung staatlicher Betriebe beteiligt.
Nebst der Pharmaindustrie gehört Stadler Rail zu den bekanntesten Schweizer Unternehmen in der Region. Das Unternehmen stellt in Weissrussland in einer eigenen Fabrik Eisenbahnwagons her.
swissinfo.ch: Was interessiert Schweizer Firmen in Osteuropa?
Interessant sind grundsätzlich die unverschämt tiefen Löhne vor Ort. So werden etwa IT- oder Grafiker-Aufträge aus der Schweiz in Ländern Osteuropas zu Spottpreisen ausgeführt. Das gilt auch für die Schweizer Textil-Industrie, die in Bulgarien produzieren lässt, einem Land mit besonders tiefen Löhnen.
swissinfo.ch: Haben die Arbeitnehmenden, die für Schweizer Firmen produzieren, wenigstens anständige Arbeitsverträge?
J.R.: Die Arbeitsverträge sind vergleichsweise gut, auch wenn sie nicht Schweizer Standards entsprechen. Firmen aus der Schweiz gehören vor Ort sicher zu den beliebteren Arbeitgeberinnen.
«Der Schweiz kommt zugute, dass sie nie zur EU gehörte. Das ist in Osteuropa allen sehr bewusst.»
swissinfo.ch: Welches Bild hat Osteuropa denn von der Schweiz?
J.R.: Nach der Wende gab es eine riesige Europa-Euphorie. Alle sprachen von der «Rückkehr nach Europa». 30 Jahre später ist davon nicht mehr viel zu spüren, im Gegenteil. Länder wie Polen und Ungarn aber auch die Slowakei und Tschechien äussern sich europakritisch. Der Schweiz kommt zugute, dass sie nie zur EU gehörte. Das ist in Osteuropa allen sehr bewusst. Die Schweiz gilt nach wie vor als neutrale Insel.
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