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60 Jahre alt und nötiger denn je

Krieg in Jugoslawien: Serben aus dem Kosovo suchen in Mazedonien Zuflucht (Bild von 1999). UNHCR

Vor sechs Dekaden wurde ein Hilfswerk gegründet, um im Nachkriegs-Europa die Situation der Zivilbevölkerung zu verbessern. Bis heute hat das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) rund 50 Millionen Menschen geholfen.

Bei seiner Gründung 1950 in Genf war das UNHCR mit einem auf drei Jahre befristeten Mandat ausgestattet. Sechzig Jahre später ist die in Genf ansässige Agentur der Vereinten Nationen in 118 Ländern tätig.

Die erste Krise hatte das UNHCR 1956 zu bestehen, als die damalige Sowjetunion den Aufstand in Ungarn niederschlug und 200’000 Menschen aus Ungarn in den Westen flohen.

Nach diesem Ereignis war die Hoffnung aus Gründertagen, wonach das UNHCR eines Tages überflüssig werden würde, endgültig vom Tisch.

Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Osteuropa während des Kalten Krieges, die Entkolonisierung in Afrika und Asien, die Abspaltung Ost-Pakistans zu Bangladesch, Militärdiktaturen in Lateinamerika, der Balkankrieg sowie Kriege im Nahen Osten: Die Situationen, die Millionen von Menschen in die Flucht treiben, rissen seit 1950 nicht ab.

Viele konnten in ihre Heimat zurückkehren, sobald sich die Lage beruhigt hatte, andere bauten sich in fremder Umgebung ein neues Leben auf. Wer Pech hat, muss jahrelang in einem Flüchtlingslager ausharren, bis sich allenfalls eine Lösung abzeichnet. Sie alle haben etwas gemein: Es ist das UNHCR, das sich um ihr Schicksal kümmert.

Politische Verwicklungen

«Das UNHCR wurde als nicht-politische Organisation gegründet, aber die Tätigkeit, auf die es fokussiert, wurde immer von der Politik beeinflusst», sagt Jussi Hanhimäki, Professor für Geschichte und Politik am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien, gegenüber swissinfo.ch

Daraus können sich Komplikationen ergeben, wie Hanhimäki am Beispiel Afghanistans illustriert: Der Einmarsch der Sowjetarmee 1979 am Hindukusch war der Anfang einer der langwierigsten Flüchtlingskrisen der Geschichte.

Das Nachbarland Pakistan sei zwar mit der UNHCR-Präsenz einverstanden gewesen, habe aber im Konflikt handfeste politische Interessen gehabt. «Einige Flüchtlingszentren wurden zu eigentlichen Trainingslagern für die Mudschahedin, die gegen die sowjetischen Invasoren kämpften. Das war natürlich keine nicht-politische Aktivität mehr, es ergaben sich Konflikte mit dem UNHCR-Mandat», erklärt Jussi Hanhimäki.

Dazu kam, dass der Iran, der nach Pakistan am zweitmeisten afghanische Flüchtlinge aufnahm, das UNHCR nach dem Sturz des Schahs 1979 nicht mehr anerkannte. Folglich konnte die UNO-Hilfsorganisation dort keine Flüchtlinge betreuen.

Humanitäre Hilfe in jedem Fall

Bei Flüchtlingskrisen geht es aber nicht nur um Nothilfe, sondern auch um juristische Fragen. Nur wenn Menschen auf der Flucht auch rechtlich als Flüchtlinge definiert sind, kann ihnen das UNHCR volle Hilfe zukommen lassen, sagt der Menschenrechtsexperte.

Von den Menschen, die durch das UNHCR betreut werden, verfügt nur die Hälfte über den Flüchtlingsstatus. Die andere Hälfte wartet auf die Abklärung ihrer rechtlichen Stellung.

Anerkannte Flüchtlinge geniessen laut Hanhimäki einen gewissen juristischen Schutz. Sie haben einerseits Anrecht auf rechtliche Beratung, andererseits können sie nicht zu einer Rückkehr in ihre Heimat gezwungen werden.

Unabhängig vom rechtlichen Status bietet das UNHCR allen Menschen, welche die Organisation betreut, humanitäre Hilfe an. «Dies ist eine der Schlüsselfunktionen, welche die Arbeit der Organisation unverzichtbar macht. Denn wäre sie nicht vor Ort, was würde mit den Menschen geschehen?», fragt Hanhimäki.

Nur Durchgangsstation

Zu den Aufgaben der Organisation gehört auch die Umsiedelung der Menschen, bevor ein Konflikt zu einer permanenten Krise auswächst. Es gibt Flüchtlingslager, in denen eine ganze Generation Vertriebener lebt, die nie etwas anderes gekannt hat.

Das UNHCR hat aber auch Erfolge aufzuweisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg haben Vertriebene aus Europa und Indochina in aller Welt neue Wurzeln schlagen können.

Voraussetzung dafür ist aber die Bereitschaft eines Landes, fremde Menschen aufzunehmen. Eine Rolle spielen dabei die wirtschaftliche Situation und der Bedarf an Arbeitskräften oder Vorurteile, was Kultur oder die Hautfarbe der Flüchtlinge betrifft.

Arbeit geht nicht aus

In seiner Rede zum 60-Jahre-Jubiläum sagte Antonio Guterres, der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, dass die Ursachen, welche Menschen zur Flucht zwingen, heute vielschichtiger seien als zum Zeitpunkt der UNHCR-Gründung.

«Immer mehr Menschen flüchten aus Armut, wegen der Folgen des Klimawandels oder weil sie in einen Konflikt involviert sind», so der Portugiese.

Für viele Menschen bedeute die Hilfe durch das UNHCR Leben statt Tod, die Fortsetzung des Lebens an einem neuen Ort, die Sicherstellung ihrer Gesundheit sowie Schutz vor Verletzungen ihrer Menschenrechte.

Neue Herausforderungen erforderten aber auch neue Lösungen. «Wir haben viele Gründe, stolz zu sein. Aber wir haben viel mehr Gründe zur Beunruhigung, betrachten wir die Herausforderungen, mit denen wir uns momentan konfrontiert sehen.»

Unglücklicherweise seien die Ursachen für Konflikte und Vertreibungen nicht eliminiert. «Die kommenden Jahre werden so herausfordernd sein wie die letzten», warnte Antonio Guterres.

Gegründet am 14. Dezember 1950, versehen mit einem dreijährigen Mandat, Menschen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu helfen.

1954 Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis.

Erste grosser Einsatz 1956 nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch die Sowjetunion, 200’000 Ungaren verlassen ihr Land.

1971 löst die Loslösung Ost-Pakistans und die Neugründung Bangladeschs eine Flüchtlingswelle mit rund zehn Mio. Menschen aus.

34 Mitarbeiter bei der Gründung. Heutige Mitarbeiterzahl 6650, davon 740 am Sitz in Genf.

Momentan kümmert sich die Agentur um knapp 35  Mio. Menschen; sie ist in 118 Ländern präsent.

14,4 Mio. Personen sind intern Vertriebene (im eigenen Land), 10,5 Mio. Flüchtlinge, zwei Mio. Rückkehrer, 6,6 Mio. Staatenlose sowie 800’000 Asylsuchende.

Budget 2009: über 2 Mrd. Franken.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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