Existenzkrise als Stimmungskiller zum EU-Jubiläum
Am 25. März 2017 wird die EU 60 Jahre alt. Aber zum Jubiläum will sich keine Feierlaune einstellen, steckt doch die EU laut Kommissionspräsident Jean-Claude Junker "in der grössten Existenzkrise ihrer Geschichte". Brüssel habe schon viel schlimmere Krisen überstanden, sagt dagegen der Genfer EU-Experte René Schwok.
Am 25. März 1957 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande und Luxemburg in Rom die Gründungsakte des heutigen Vereinten Europas. Daher der Name Römische Verträge.
Das am 1. März von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, präsentierte «Weissbuch» zur Zukunft des vereinten Europas konnte weder die Massen noch die Politiker in Begeisterung versetzen.
Junkers fünf Szenarien zur Erneuerung des europäischen Projekts fehlt die Inspiration. Sie sind laut Kritikern bloss ein Wiederkäuen alter Ideen, wie beispielsweise der Idee eines «Europas der zwei (oder mehrenen) Geschwindigkeiten» mit einem «Kerneuropa» um Deutschland und Frankreich.
Konnte der Luxemburger seine föderalistischen Überzeugungen nicht zu einem mutigeren Europa-Paket schnüren? «Zweifellos wollte er sich nicht in die Höhle des Löwen begeben, während in Frankreich und Deutschland bald Wahlen stattfinden, die für die Zukunft der EU entscheidend sind», sagt René Schwok, Direktor des Global Studies InstituteExterner Link in Genf und Experte für die europäische Integration.
Goldenes Zeitalter
Von der Euphorie, die der deutsche Kanzler Helmut Kohl, der französische Präsident François Mitterrand und der Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors Ende des letzten Jahrhunderts versprühten, ist heute nicht mehr viel zu spüren. «Es war wirklich das Goldene Zeitalter des europäischen Aufbaus. Dies dank Persönlichkeiten wie Kohl, Mitterrand und Delors, aber auch dank des Falls der Berliner Mauer, der ein positives Klima schuf», sagt Schwok, der soeben ein Buch mit dem Titel «La construction européenne contribue-t-elle à la paix?Externer Link» (Fördert der Aufbau der Europäischen Union den Frieden?) publiziert hat.
Mit dem Unterzeichnen der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 und dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union. Ziel war, eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zu bilden. Die gemeinsame Währung, den Euro, haben inzwischen 19 von 28 Mitgliedsländern (27 ohne Grossbritannien) eingeführt.
Zeit der Krise
Die Dynamik kam während der 2000er-Jahre ins Stocken, mit dem Scheitern der Europäischen Verfassung und der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Diese trafen die EU schwer. Dann folgten in rascher Abfolge die Euro-Krise, die Krise Griechenlands, die Flüchtlingskrise, der Brexit (Austritt Grossbritanniens aus der EU) sowie das Erstarken anti-europäischer Parteien in mehreren Mitgliedsstaaten.
«Der Aufschwung des Populismus bleibt die grösste Gefahr für die EU», findet Schwok, auch wenn die Wahlen in den Niederlanden – in denen der Rechtspopulist Geert Wilders unter den Erwartungen abschnitt – kürzlich zeigten, dass die Kraft des Populismus nicht unwiderstehlich ist.
«Die Geschichte lehrt uns, dass alles möglich ist und dass die Schwierigkeiten für Brüssel gross bleiben. Aber es gibt schon seit Jahren einen übertriebenen und schwarzmalerischen Diskurs über die EU. Jedes Mal, wenn es in der EU Probleme gibt, verkünden viele Journalisten, Experten und Politiker das Ende der EU oder des Euro. Diese Voraussagen haben sich aber noch immer nicht bewahrheitet.»
Aber das ist noch nicht alles. Das Russland von Wladimir Putin mischt sich mit seiner Propagandamaschine und durch Unterstützung von antieuropäischen Parteien stark in europäische Wahlen ein. «Das ist neu», sagt Schwok. «Wir können die Wirkung dieser Einmischung noch nicht abschätzen. Die Manipulationen von Putin könnten die EU von innen heraus schwächen. Allerdings könnten sie auch den gegenteiligen Effekt haben und diese Parteien marginalisieren, wenn sie als Schachfiguren von Putin wahrgenommen werden.»
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Ein ultra-liberales Europa?
Zu den regelmässigen Kritiken an der EU gehört, dass sie eine zu liberale Wirtschaftspolitik betreibe. Diese Kritik hält Schwok für übertrieben: «Entgegen dem, was man häufig hört, ist die EU nicht rein neoliberal, wie man es von der USA, einem Teil Asiens und einem guten Rest der Welt sagen kann. Von Anfang an war der Aufbau der Europäischen Union eher sozial-liberal. Die EU predigt den Freihandel und ist gegen Protektionismus. Aber diese Öffnung der Märkte wird von einer Politik begleitet, die Umweltschutz, Gesundheit und soziale Sicherheit regelt. Es ist also kein ungezügelter Liberalismus. Erinnern wir uns daran, dass die europäischen Länder die sozialsten der Welt sind. Aber die Staaten wollten nicht, dass ihre sozialen Kompetenzen auf die Ebene der EU übertragen werden.»
Demokratisches Defizit der EU?
Häufig wird auch kritisiert, dass über die in Brüssel beschlossenen Massnahmen keine Volksabstimmungen durchgeführt werden und dass es keine gesamteuropäischen Wahlen gibt, um die Organe der EU besser zu legitimieren.
Hier stimmt Schwok teilweise zu. «In einer partizipativen Demokratie könnten Referenden von Bürgern zu einem grossen europäischen Diskurs führen. Aber solche Konsultationen auf europäischem Niveau sind schwer vorstellbar, weil sie innerhalb der Mitgliedsstaaten nicht existieren.»
Erinnern wir uns, dass die Regierung in der Schweiz kein Referendum ansetzen kann. Entweder ist es das Recht, das eine Volksabstimmung vorschreibt (bei Verfassungsänderungen), oder die Initiative geht von Bürgern und Bürgerinnen aus.
Auch für europäische Bürger gibt es ein Initiativrecht, aber es gleicht eher einem Petitionsrecht, wie Schwok erklärt: «In der EU können eine Million Bürgerinnen und Bürger die Europäische Kommission auffordern, ein Gesetzesprojekt auszuarbeiten. Aber die Kommission kann dies ablehnen. Was sie die meiste Zeit tut. Und falls der Vorschlag aufgenommen wird, kann die Bevölkerung nicht darüber abstimmen, sondern der Ministerrat und das europäische Parlament. In der Schweiz wird eine Vorlage auch dann dem Volk vorgelegt, wenn Regierung und Parlament dagegen sind. Was häufig der Fall ist.»
Die politische Mitbestimmung der Bürger und Bürgerinnen bewahrt die Schweiz nicht vor Zweifeln, Ablehnungen oder plötzlichen Stimmungswechseln. Die Probleme kommen aber schneller auf den Tisch, weil die Bevölkerung regelmässig um ihre Meinung gefragt wird. Der demokratische Prozess ermöglicht es daher der Schweiz, die drängendsten Probleme schnell aus der Welt zu schaffen.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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