Soll das Demonstrationsrecht eingeschränkt werden?
Die Organisation einer Demonstration in Bern, der Hauptstadt der Schweiz, könnte komplizierter werden. Am kommenden Sonntag entscheidet die dortige Stimmbevölkerung über Massnahmen zur besseren Überwachung von Kundgebungen.
Als Hauptstadt der Schweiz und Sitz der Bundesbehörden ist Bern die ideale Stadt für die Organisation von Demonstrationen.
Verbände, politische Parteien und Gruppen aller Art marschieren dort mehr als 200 MalExterner Link im Jahr auf, um das Klima zu schützen, gleiche Bezahlung von Frau und Mann zu fordern oder Abtreibung zu verbieten. Diese Versammlungen sind genehmigungspflichtig und verlaufen meist friedlich, aber manchmal kommt es zu Ausschreitungen, oder es mischen sich Chaoten unter die Demonstrierenden.
Um Ausschreitungen in Grenzen zu halten, wollen die Berner Behörden Demonstrationen stärker kontrollieren.
Sie möchten, dass sich die Organisatoren von Demonstrationen an den Kosten der polizeilichen Intervention beteiligen, wenn Gewalttaten gegen Personen oder Eigentum begangen wurden. Die maximalen Kosten betragen 10’000 Franken, in besonders schweren Fällen 30’000 Franken. Die Organisatoren der Kundgebung sollen zur Zahlung verpflichtet werden können, wenn sie keine Genehmigung hatten oder wenn sie vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen die Regeln verstossen haben.
Diese neue Regelung erfolgt im Rahmen der Revision des kantonalen PolizeigesetzesExterner Link, über die am Sonntag auf kantonaler Ebene abgestimmt wird.
Die Berner Regierung und das Parlament wollen die Schrauben anziehen, aber zahlreiche Stimmen warnen vor einer Verletzung der Grundrechte. Linke Parteien, Verbände sowie Juristen und Juristinnen haben das ReferendumExterner Link gegen dieses neue Gesetz ergriffen, damit die Stimmbevölkerung das letzte Wort hat.
Wie weit kann die Freiheit eingeschränkt werden?
Das Demonstrationsrecht vereint zwei Grundrechte, die in der Allgemeinen Erklärung der MenschenrechteExterner Link (Art. 19 und 20) sowie der Schweizer BundesverfassungExterner Link (Art. 16 und 22) verankert sind: die Meinungsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit.
«Alle Freiheiten können eingeschränkt werden, es gibt keine absolute Freiheit», sagt Maya HertigExterner Link, Rechtsprofessorin an der Universität Genf. Die Frage ist, wie weit die Behörden die Freiheiten einschränken können, ohne die Grundrechte zu verletzen.
Die politischen Parteien in Bern sind in diesem Punkt gespalten: Die Rechte ist der Ansicht, dass gewalttätige oder unbewilligte Handlungen nicht unter die Meinungsfreiheit fallen und fordert Instrumente zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Die Linke verurteilt unverhältnismässige Einschränkungen, welche die Bürger davon abhalten könnten, ihr Demonstrationsrecht auszuüben.
«Drohende Polizeigebühren könnnen eine grundrechtswidrige Abschreckungswirkung haben» humanrights.ch
Das Menschenrechtsportal humanrights.chExterner Link gibt zu bedenken, dass Demonstrierende durch drohende Polizeigebühren eventuell derart abgeschreckt würden, dass sie zum Vornherein auf die Grundrechtsausübung der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit verzichten. «Damit liegt eine grundrechtswidrige Abschreckungswirkung bzw. ein Einschüchterungseffekt (chilling effect) vor.»
Die Menschenrechts-Plattform bedauert, dass unbewilligte Demonstrationen so de facto verunmöglicht werden, was problematisch sei: «So wurde zuletzt im Rahmen der OSZE-SelbstevaluationExterner Link der Schweiz eingehend postuliert, die Schweizer Behörden sollten auch friedliche, aber unbewilligte Demonstrationen zulassen und deren Veranstalter/innen und Teilnehmende nicht abstrafen.»
Humanrights.ch zeigt noch ein weiteres Problem auf: «Dass dieselbe Behörde, die einen Polizeieinsatz führt und gegebenenfalls den Veranstalterinnen einen Verstoss gegen Bewilligungsauflagen vorwirft, auch über die Kostenauflage entscheidet, erweckt zumindest den Anschein fehlender Unabhängigkeit und kann den Einschüchterungseffekt verstärken.»
«Bestimmte Verhaltensweisen abschrecken»
Hertig sieht die neuen Regelungen in einem etwas anderen Licht. Sie betont, dass es laut Bundesgericht wichtig ist, durch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit keine abschreckende Wirkung zu erzielen, aber sie präzisiert: «Laut Bundesgericht können die Organisatoren bei Ausschreitungen im Falle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit verantwortlich gemacht werden.»
Das müsse aber immer im konkreten Einzelfall beurteilt werden. «Es muss geprüft werden, ob die Bedingungen für eine Demonstrationsbewilligung akzeptabel waren und ob ein direkter Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten und dem Schaden oder den verursachten Kosten bestand.»
Laut der Rechtsprofessorin verstösst das Gesetz nicht gegen Grundrechte, sofern es genau festlegt, dass die Kosten der Intervention nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Rechnung gestellt werden. «Damit wird das Gesetz die Bevölkerung nicht vom Demonstrieren abhalten, aber es wird möglicherweise unverantwortliches Verhalten verhindern», so Hertig.
Um zu verdeutlichen, dass das Kostenrisiko die Demonstrierenden immer noch abschrecken kann, führt humanrights.ch das Beispiel des Kantons Luzern an, der 2017 sein PolizeigesetzExterner Link revidiert hat, um ein Kostenüberwälzungs-System einzuführen, das dem Vorschlag des Kantons Bern ähnelt. «Früher war in Luzern jedes Jahr eine 1. Mai-Demonstration organisiert worden, aber seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes gibt es keinen Organisator mehr und auch keine Demonstrierenden», beklagt die Menschenrechts-Plattform.
«Der Zweck heiligt die Mittel»
Hertig erinnert daran, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht nur den individuellen Interessen dienen würden, sondern für einen demokratischen Staat unerlässlich seien. Denn sie trügen zur Meinungsbildung bei und ermöglichten es auch Gruppen mit wenig Mitteln, öffentlich ihre Meinung zu verbreiten. «Man kann vom Staat erwarten, dass er zum reibungslosen Ablauf einer Demonstration beiträgt, aber das schliesst eine individuelle Verantwortung nicht aus.»
«Man kann vom Staat erwarten, dass er zum reibungslosen Ablauf einer Demonstration beiträgt, aber das schliesst eine individuelle Verantwortung nicht aus.»
Maya Hertig
Die Rechtsprofessorin stellt fest, dass viel über eine Kundgebung gesprochen wird, wenn sie schief geht: «Politiker und Medien hätten dann auch die Pflicht, auf die Existenz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit hinzuweisen und an deren Bedeutung zu erinnern.»
Für humanrights.ch zeigt die Absicht, die Demonstrationsfreiheit einzuschränken, eine allgemeine Tendenz auf: «Das Berner Polizeigesetz führt auf kantonaler Ebene weiter, was der Bund auf nationaler Ebene mit seiner Gesamtstrategie zur Terrorismusbekämpfung angestossen hat. Das Motto ‹Der Zweck heiligt die Mittel› ist zum roten Faden geworden und wird zur Rechtfertigung einer neuen Interessengewichtung herangezogen: Sicherheit über Meinungsäusserungs-Freiheit.»
Für die Menschenrechts-Plattform ist klar, dass ein Kompetenzausbau der Polizei nur in Frage komme, wenn auch entsprechende Kontrollmechanismen eingeführt würden. «Ein erster Schritt dazu wäre die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle und Untersuchungsinstanz zu polizeilichem Fehlverhalten.»
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch