Geldspielgesetz mobilisiert Junge und Unzufriedene
Das Referendum vom 10. Juni über das Geldspielgesetz zeigt ein neues Phänomen: Es vereint junge Menschen aus dem ganzen politischen Spektrum und mobilisiert Bürger und Bürgerinnen, die kein Vertrauen in Regierung und Institutionen haben. Das sind Zeichen eines Wandels in der Schweizer Politik, sagt Politologe Claude Longchamp.
Alle Jungsektionen der im nationalen Parlament vertretenen Parteien, mit Ausnahme jener der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), bekämpfen das neue GeldspielgesetzExterner Link, das vom Parlament mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde.
Dieser Generationenzusammenhalt über die Parteigrenzen hinaus, von rechts bis links, ist ungewöhnlich. «Ich erinnere mich an keinen Fall, in dem es eine solche Einigkeit in den Ansichten der Jugendlichen gab», bestätigt Claude Longchamp, der während dreissig Jahren an der Spitze des von ihm gegründeten Forschungsinstituts gfs.bern Umfragen zu allen nationalen Abstimmungen durchführte und die Resultate analysierte.
Gemeinsam für Netzfreiheit
Die Bündelung der jungpolitischen Kräfte ist ein entscheidender Punkt für die vom Geldspielgesetz betroffene Generation: Es geht ihnen um den Netzzugang und die Informationsfreiheit im Internet.
Das Gesetz würde es Schweizer Casinos erlauben, auch im Internet Spiele anzubieten, gleichzeitig könnten Schweizer Behörden den Zugang zu allen Online-Glücksspielen sperren, die nicht vom Bund lizenziert sind. Das bedeutet, dass in der Schweiz alle ausländischen Geldspiele-Websites gesperrt würden.
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Milliarden-Poker an den Schweizer Urnen
Die Jungsozialisten bekämpfen das Geldspielgesetz, obwohl ihre Mutterpartei, die Sozialdemokratische Partei (SP), das Gesetz unterstützt. Noch sensationeller ist das Aufbegehren der Jungen innerhalb der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) und der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP): Den Jungen ist es gelungen, ihre Mutterparteien zu einer Nein-Parole für die Abstimmung am 10. Juni zu bewegen, obschon deren Vertreter im Parlament das Geldspielgesetz genehmigt hatten.
Kleine Revolution bei den Liberalen
Der Coup der Jungfreisinnigen ist die erste grosse Novität dieser Referendumskampagne: «Es war der Moment, in dem ich mich fragte, was los ist», sagt Longchamp. Der Experte erinnert daran, dass die FDP eine Partei mit einer langen Tradition ist, in der einzig die parlamentarische Fraktion einen bestimmenden Einfluss hat.
Es sei auch darauf hingewiesen, dass die FDP die in dieser Legislaturperiode erfolgreichste Partei war: «Sie hat bei den Wahlen zu den Kantonsregierungen und -parlamenten an Boden gewonnen und bei den nationalen Abstimmungen am meisten Einfluss gehabt», so Longchamp.
Die Statistiken von gfs.bern zeigen, dass bei 95,5% der Abstimmungsvorlagen auf Bundesebene das Verdikt der Stimmbevölkerung mit der Empfehlung der FDP übereinstimmte. Das ist mit Abstand die höchste Erfolgsquote. Die BDP hat mit 86,4% das zweitbeste Ergebnis.
Aufstieg der jungpolitischen Kräfte
Laut Longchamp handelt es sich «zweifellos um ein Zeichen eines Wandels». Seit etwa zehn Jahren hätten sich die jungen Generationen des ganzen politischen Spektrums zu «echten Parteien» formiert. Zuvor seien nur die Jungsozialisten sowie die Junge SVP (Schweizerische Volkspartei) als Parteien mit Parteiprogramm und politischen Forderungen organisiert gewesen, so der Politologe.
«Heute hingegen hat jede Partei eine eigene Jugendsektion. Dadurch haben junge Anhänger eine Partei-Plattform. Zudem haben sie ein Instrument: die sozialen Netzwerke. Sie müssen nicht darauf warten, dass die Medien ihnen eine Plattform bieten: Sie können sich direkt positionieren und an Gleichaltrige wenden. Dadurch sind sie zu einer politischen Kraft geworden, manchmal mit entscheidendem Einfluss, manchmal nicht.»
Allerdings stossen junge Parteianhänger auch auf ein Problem: Die Stimmfaulheit ihrer Altersgenossinnen und Altersgenossen. Gemäss Schätzungen ist die Stimmbeteiligung der Jungen bei Abstimmungen 10 bis 15 Prozentpunkte niedriger als jene der Gesamtheit. Die Fähigkeit zur Mobilisierung ist also der Schlüssel, um die Kraft der Jungparteien in der politischen Debatte auch in einen tatsächlichen Effekt auf das Abstimmungsergebnis umzumünzen.
Strukturwandel in der Mobilisierung
Die zweite grosse Neuheit der Kampagne im Hinblick auf die Abstimmung vom 10. Juni ist laut Longchamp die grössere Bereitschaft zur Partizipation bei Personen, die kein Vertrauen in die Regierung haben.
In der ersten Umfrage von gfs.bern im Auftrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) gaben 51% von ihnen an, dass sie mit Sicherheit abstimmen werden. Bei Personen, die der Regierung vertrauen, gaben nur 33% an, dass sie mit Sicherheit an der Abstimmung teilnehmen werden.
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Die Vollgeld-Initiative hat kaum eine Chance
Das ist überraschend, weil es exakt dem Gegenteil des gewöhnlichen Schemas entspricht. Die Frage der Mobilisierung betrifft nicht nur das Geldspielgesetz. Am gleichen Tag wird auch über die Vollgeld-Initiative abgestimmt, die das Recht zur Schaffung von Bar- und Buchgeld der Nationalbank vorbehalten will.
Longchamp fragt sich, ob die Mobilisierung von Personen ohne Vertrauen in die Regierung darauf zurückzuführen sei, dass heute über die sozialen Netzwerke mobilisiert werde. Das Interesse der klassischen Medien an den Abstimmungsthemen des 10. Juni sei «mittelmässig», während die Debatte auf den sozialen Netzwerken sehr lebhaft sei.
In den sozialen Netzwerken hagelt es Kritik an den Parlamentariern. Auf Twitter lautet das Leitmotiv: «Die politische Klasse wird von Interessengruppen bezahlt, sie vertritt nicht mehr die Interessen des Volkes, sondern nur die eigenen», so Longchamp. Er stellt einen digitalen Populismus fest. «Ich habe noch nie eine solche Aggressivität in den Abstimmungsdebatten erlebt. Bis jetzt habe ich das nur bei Wahlen gesehen.»
Der Experte spricht von einem «strukturellen Wandel in der Mobilisierung, mit einer Erstarkung des Populismus». Noch ist es schwierig zu sagen, ob dieses Phänomen sich auch in Zukunft fortsetzen wird oder ob es isoliert im Zusammenhang mit den Umständen dieser Abstimmung vorkommt.
Wenn aber eine Community von Unzufriedenen und Bürgern ohne Vertrauen in die Institutionen entstünde, und diese regelmässig für Unterschriftensammlungen und für Abstimmungen mobilisiert würde, um Opposition zu machen, dann bestünde die Gefahr grosser Umwälzungen in der Schweizer Politik, so Longchamp.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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