Unternehmenssteuer: Den Wettlauf nach unten bremsen
Das Schweizer Stimmvolk entscheidet am 19. Mai über eine komplexe Reform der Unternehmensbesteuerung. Wie passt diese zu den internationalen Bemühungen, gegen die Steuerhinterziehung vorzugehen?
Tod und Steuern sind die einzigen Sicherheiten des Lebens, sagt man. Grosse multinationale Unternehmen setzen viel daran, letztere zu minimieren.
Infolgedessen verlieren die nationalen Finanzministerien weltweit jedes Jahr rund 100 bis 245 Milliarden Franken an Einnahmen, so die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECDExterner Link).
Andere Schätzungen gehen sogar noch weiter. Die Financial Times berichtete im vergangenen Jahr, dass multinationale Unternehmen heute weniger Steuern zahlen als vor der Finanzkrise 2008.
Die Reform der Unternehmenssteuer in der Schweiz ist ein Beispiel dafür, was die Länder zu tun versuchen, um die Praktiken von Unternehmen in einer komplexen, globalisierten Welt zu ändern.
Harmonisierung
Ein Grossteil der Reformimpulse kommt von der OECD. Im Jahr 2013 startete die in Paris ansässige Gruppe die Initiative Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)Externer Link, ein Projekt, dem inzwischen über 125 Länder beigetreten sind, darunter die Schweiz. Die bevorstehende Abstimmung im Alpenland hat direkten Einfluss auf die Einhaltung der BEPS-Richtlinien.
Beim OECD-Projekt geht es nicht nur um die Bekämpfung niedriger Unternehmens-Steuersätze. Ein Kadermitglied der OECD sagte gegenüber swissinfo.ch, dass es darauf abziele, die Transparenz zu erhöhen, damit die Steuerverwaltungen ihre Arbeit besser erledigen könnten. Will heissen, mehr «Kohärenz» in die internationalen Steuersysteme zu bringen und die «Substanz» dieser Systeme zu stärken, damit die Besteuerung dort geschieht, wo der Mehrwert geschaffen wird, und nicht dort, wo die Gewinne deklariert werden.
Es geht also nicht darum, die Steuergesetze oder Steuersätze vollständig zu harmonisieren, sondern den Regierungen zu ermöglichen, voneinander zu lernen und Praktiken zu entwickeln, welche die Steuerbasis jedes einzelnen Landes am besten schützen können, anstatt einen totalen Wettlauf nach unten zu betreiben. Sprich, grössere Löcher in den Staatskassen infolge der Ausfälle bei der Unternehmenssteuen hinzunehmen.
Die Organisation zögert, ein klares Urteil über den Schweizer Reformvorschlag abzugeben, begrüsst aber, dass Bern versucht, neue Regeln durchzusetzen – wenn auch einige Jahre später als geplant.
Und wenn die Vorlage abgelehnt werden sollte? Die OECD hat nicht die Macht oder die Absicht, Sanktionen zu verhängen. Aber als eine Institution, die auf «Dialog und Wohlwollen» basiert, würde die Verzögerung nicht unbemerkt bleiben, sagt das OECD-Kadermitglied.
Das irische Beispiel
Obwohl die Schweiz – aufgrund ihres politischen Systems – eines der wenigen Länder ist, in denen die Bürgerinnen und Bürger ein direktes Mitspracherecht in Steuerfragen haben, ist sie nicht die einzige Nation, die in letzter Zeit wegen schädlicher Steuerpraktiken unter die Lupe genommen wurde.
Bereits in den 1950er-Jahren, als Irland eine unterentwickelte Agrarwirtschaft mit zunehmender Auswanderung war, begann seine Regierung bewusst, eine Wirtschaftspolitik umzusetzen, die darauf abzielte, multinationale Gesellschaften anzuziehen, anstatt die einheimische Industrie zu unterstützen.
Die Strategie blieb bestehen, und heute ist Dublin mit der Verwandlung des einst zerfallenen Hafenviertels in eine herausgeputzte Hochhauszone, die von grossen Technologieunternehmen wie Google und Facebook besetzt wird. Ein sichtbares Symbol für Irlands erstaunliche Popularität als steuergünstiges, unternehmensfreundliches Ziel.
Aber damit sind nicht alle glücklich, zumal die Finanzkrise 2008 die Wirtschaft dezimierte, was zu einer heftigen sozialen Debatte und einer neuen Auswanderungswelle führte.
«Irland ist einer der Spitzenreiter im Rennen nach unten», sagt Professor David Jacobson von der Dublin City University, der kürzlich ein BuchExterner Link über Steuerpraktiken in Irland und der EU, publizierte. (Der Titel, Upsetting the Apple Cart, bezieht sich auf den Hersteller des iPhones, der in einem Fall von 2016 von der EU angewiesen wurde, 13,1 Mrd. Euro an Steuernachzahlungen an die irische Staatskasse zu zahlen. Die irische Regierung sagt, dass sie das Geld nicht haben wolle.)
Wirtschaftliche Gefahren
Jacobson sagt, dass die Praxis, einen niedrigen nominalen Steuersatz (12,5%) für Unternehmen anzubieten, nicht nur aus Gründen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit falsch sei, sondern langfristig eine reelle Gefahr für die wirtschaftliche Stabilität darstelle.
In einem Buch mit dem Titel «Irland und der Binnenmarkt» von 1991 warnte er bereits davor, dass sich eine solche Strategie zuungunsten der Entwicklung des Inlandsmarktes verlagern würde. Und dass eine übermässige Abhängigkeit von einer einzelnen Wirtschaftsstrategie riskant sei. Was würde zum Beispiel geschehen, wenn die internationalen Investitionen austrocknen?
Trotzdem, sagt er, zeige die Regierung keinen Willen, diesen Eckpfeiler der Wirtschaftspolitik ernsthaft zu ändern. Daran habe auch die Erklärung des Europäischen Parlaments Anfang dieses Jahres nichts geändert. Dieses bezeichnete Irland als eine von fünf «Steueroasen» in der EU, neben Zypern, Luxemburg, Malta und den Niederlanden.
Immerhin: Im Jahr 2014 wurde unter dem Druck der OECD und der EU das berüchtigte «doppelte irische» Schlupfloch aufgehoben. Dieses erlaubte es Tochtergesellschaften mit Sitz in Dublin, Gewinne an Bestimmungsorte wie die Bermudas zu transferieren, um in Irland keine Steuern zahlen zu müssen.
Aber Jacobson weist darauf hin, dass immer neue Anlaufstellen gefunden werden: Wenn zum Beispiel Steuererleichterungen für Forschungs- und Entwicklungsprojekte angeboten werden, ist es für gewiefte Buchhalter ein Leichtes, neue interne Verfahren zu schaffen, um alle Arten von Aktivitäten unter diese Rubrik zu verlagern.
Das Problem der Besteuerung der immateriellen Aktivitäten und Produkte von grossen Technologieunternehmen – das nächste grosse Thema auf der OECD-Agenda – ist in Irland ebenfalls sehr heikel, weil sich dort viele multinationale Cloud-basierte Datenunternehmen befinden.
Genug von einer Reform?
Das ist in der Schweiz weniger problematisch, wo multinationale Unternehmen vor allem aus den Bereichen Pharma und Rohstoffe dominieren. Trotzdem geht die Reform der Vorlage vom 19. Mai einigen Kritikern zu wenig weit. Sie verlangen eine grundlegende Überarbeitung.
Alliance Sud, die Dachorganisation verschiedener Schweizer Hilfswerke, sagt, dass die Vorlage nichts an den Steuervermeidungs-Strategien der multinationalen Unternehmen ändern werde. In ihrer Analyse der Reform heisst es, dass die gleichen Mittel der Abzüge und der Vermeidung fortgesetzt würden, aber einfach unter anderen Namen.
Die Organisation weist auf zwei besondere Massnahmen hin, mit denen solche Praktiken im Rahmen des neuen Systems nicht nur beibehalten, sondern sogar gefördert würden: Abzüge, die es ermöglichten, nur einen kleinen Teil der Gewinne zu besteuern, und das «Verschwinden» von Aktionärsdividenden, die letztlich nirgendwo besteuert werden.
Dies komme einer Praxis gleich, die nur grossen multinationalen Unternehmen und deren Aktionären diene, argumentiert Alliance Sud. Sie fördere Gewinnverlagerungen in die Schweiz zum Nachteil der Entwicklungsländer, in denen die Wirtschaftstätigkeit tatsächlich stattfindet.
Im Rennen bleiben
Für die Schweizer Regierung ist es natürlich das Ziel, wettbewerbsfähig zu bleiben. Wie Irland und andere Länder, mit denen das Land im Wettbewerb um ausländisches Kapital steht, ist die Aufnahme multinationaler Unternehmen ein Schlüsselelement seines wirtschaftlichen Erfolgs.
Alliance Sud hingegen fordert, dass Bern eine grundlegendere Reform des Steuersystems vorschlägt, die – im Einklang mit den Wünschen der OECD – nicht mehr auf der Abwerbung von Steuereinnahmen aus anderen Staaten beruht. Dies auf nachhaltige Weise zu tun, wäre weltweit ein wertvoller sozialer und ökologischer Beitrag, argumentiert der Dachverband der Hilfswerke.
«Die Schweiz ist einer der Motoren, die den weltweiten Wettlauf um die Unternehmenssteuer nach unten antreiben», heisst es dort. «Wenn das Land einmal auf die Bremse treten würde, hätte dies positive Auswirkungen auf das gesamte System.»
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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