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Sozialdetektive mit einem Fuss in der Haustür

Uomo con fotocamera tra gli alberi
Sozialdetektive spionieren Versicherten nach, um herauszufinden, ob es ihnen wirklich so schlecht geht, wie sie behaupten. © KEYSTONE / ENNIO LEANZA

Ein neues Gesetz soll es Sozialversicherungen erlauben, Versicherte mit Hilfe von Sozialdetektiven auszuspionieren. Die Massnahme sei notwendig, um Missbräuche aufzudecken, finden Parlament und Regierung. Die Gegner hingegen sprechen von Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und ergriffen das Referendum. Die Abstimmung findet am 25. November statt.

A. erlitt einen Arbeitsunfall, klagte in der Folge über starke Rückenschmerzen und erhielt eine Invalidenrente der Schweizerischen Unfallversicherung (SuvaExterner Link). Die Suva verdächtigte ihn jedoch, schlimmere Schmerzen zu simulieren, als er tatsächlich hatte. Das medizinische Bild war nicht sehr klar, in Gesprächen mit SUVA-Vertretern äusserte sich der Versicherte ausweichend. Aus diesem Grund beauftragte die Versicherung den Privatermittler B., den Versicherten A. zu überwachen, um herauszufinden, ob der tatsächliche Gesundheitszustand wirklich den Behauptungen entsprach.*

Wie viel kosten Überwachungen?

Von 2009 bis 2016 führte die Invalidenversicherung rund 16’000 Untersuchungen wegen Missbrauchsverdachts durch. In 1700 dieser Fälle wurde eine Überwachung gemacht, und in 800 von ihnen erwies sich der Verdacht als begründet. Im gleichen Zeitraum untersuchte die Suva rund 3300 verdächtige Fälle und stellte 11 Personen unter Observation.

Im Jahr 2017 untersuchte die IV 2130 Fälle von insgesamt 217’000 Versicherten. In 210 Fällen wurden Überwachungsmassnahmen ergriffen, von denen 170 Verdachtsfälle bestätigt wurden. Die gesamten Renteneinsparungen dank Überprüfungen wird auf rund 178 Mio. CHF geschätzt, wovon rund 60 Mio. CHF auf Überwachungsmassnahmen entfallen.

Sagt die Stimmbevölkerung am 25. November Ja zum revidierten Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG), darf Privatdetektiv B. den Versicherten A. überwachen, sei es auf der Strasse, an einer Bar, im Park oder an einem anderen öffentlich zugänglichen Ort. Auch an privaten Orten kann er ihn bei freier Sicht im Auge behalten, sofern der Privatdetektiv auf öffentlichem Grund bleibt. B. kann A. beispielsweise beobachten, während dieser auf dem Balkon oder im Garten ist.

Der Sozialdetektiv darf Fotos oder Tonaufnahmen machen, vorausgesetzt, er verwendet keine Geräte, die seine Wahrnehmungsfähigkeit erhöhen, wie Teleobjektive, Nachtsichtgeräte oder Richtmikrofone. Mit Erlaubnis eines Richters darf der Privatermittler den Versicherten sogar mit GPS orten.

Die Entstehung der Gesetzesrevision

In der jüngsten Vergangenheit haben die SUVA und die Invalidenversicherung (IVExterner Link) systematisch Überwachungsmassnahmen ergriffen, um gegen mögliche Missbräuche vorzugehen. Im Oktober 2016Externer Link befand allerdings der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), die schweizerischen Unfallversicherer verfügten über keine genügende gesetzliche Grundlage für die geheime Überwachung von Versicherten. Die Schweizerische Unfallversicherung (Suva) stellte die Überwachungen deshalb sofort ein. Aufgrund eines späteren Bundesgerichtsurteils hörte auch die IV mit Überwachungen auf.

Die Suspendierung der Überwachungsmassnahmen veranlasste Regierung und Parlament zu einem Eingreifen. Eine Mehrheit des Parlaments hielt die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für dringlich und beschloss, aus einer von der Regierung bereits vorgeschlagenen breiteren Revision des ATSG die Bestimmungen zur Observation herauszunehmen und vorrangig zu behandeln. Im März 2018 stimmten beide Parlamentskammern der Revision mit grosser Mehrheit zu.

Die neuen Bestimmungen sehen unter anderem vor, dass ein Vertreter der Versicherung mit Direktionsfunktion die Überwachungsmassnahme anordnen kann, sofern konkrete Anzeichen eines Missbrauchs bestehen und die Situation nicht auf andere Weise abgeklärt werden kann. Eine Observation darf an höchstens 30 Tagen innerhalb von sechs Monaten stattfinden. Dieser Zeitraum kann um höchstens weitere sechs Monate verlängert werden. Am Ende der Überwachung muss die Versicherung die betroffene Person über den Grund sowie Art und Dauer der Überwachung informieren.

Wenn der Verdacht auf Missbrauch nicht erhärtet werden konnte, muss die Versicherung das Observationsmaterial vernichten, sofern die versicherte Person nicht ausdrücklich eine Aufbewahrung in den Akten verlangt.

+ Der AbstimmungstextExterner Link

Die neuen Bestimmungen betreffen nicht nur Suva und IV, sondern alle dem ATSG unterliegenden Sozialversicherungen, also AHV, Arbeitslosenversicherung und obligatorische Krankenversicherungen. Das Gesetz betrifft also potenziell alle Personen, die in der Schweiz leben. Ausgenommen sind hingegen die Sozialhilfe, die in die Kompetenz von Kantonen und Gemeinden fällt, sowie die berufliche Vorsorge.

Umstrittene Punkte

Zwar besteht Einigkeit darüber, dass Missbrauch in den Sozialversicherungen bekämpft werden muss. Dennoch haben linke Politiker die Revision im Parlament harsch kritisiert: Sie sei unverhältnismässig und verstosse gegen Grundrechte und Privatsphäre der Versicherten. Das Gesetz, das in grosser Eile durchgewunken wurde, würde nur den Interessen der Versicherungen dienen und ein Klima des Generalverdachts gegenüber den Versicherten schaffen.

Die Gegner kritisieren insbesondere, dass Versicherungen gemäss neuen Bestimmungen Personen überwachen können, ohne die Genehmigung eines Richters einholen zu müssen. Damit hätten die Versicherungen mehr Befugnisse als die Polizei.

Die Strafprozessordnung (StPOExterner Link) erlaubt es der Polizei, Personen ohne gerichtlichen Beschluss an allgemein zugänglichen Orten verdeckt zu beobachten. Die StPO erwähnt im Unterschied zum ATSG aber nicht, dass eine Person an einem Ort überwacht werden kann, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist.

Externer Inhalt

Nach Angaben des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSVExterner Link) erlaubt es die Rechtsprechung des Bundesgerichts auch der Polizei, Personen an privaten Orten zu überwachen, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind – auch wenn dies in der Strafprozessordnung nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Tatsache ist jedenfalls, dass die Revision des ATSG den Sozialdetektiven ähnliche Rechte wie der Polizei einräumt.

Ebenfalls gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung bestreitet das BSV auch die von Gegnern befürchtete Annahme, gemäss neuem Gesetz könne auch im «frei einsehbaren» Innern eines Hauses überwacht werden. Laut BSV fallen Wohn- und Schlafzimmer sowie Treppenhäuser unter die geschützte Privatsphäre und können nicht von Sozialdetektiven überwacht werden.

Externer Inhalt

Das BSV betont zudem, dass die Revision keine Hilfsmittel zur Erhöhung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten bei der Aufnahme von Bildern, Audio oder Video erlaube. Drohnen, Nachtsichtgeräte, Infrarotkameras, Teleskope und Wanzen dürfen also nicht verwendet werden. Dies ist allerdings im Gesetz nicht ausdrücklich so formuliert, sondern ergibt sich aus der Auslegung analog zur Strafprozessordnung sowie aus den Stellungnahmen des Bundesrates während des Gesetzgebungsverfahrens.

Deshalb kritisieren einige Gegner, vor allem jene aus dem liberalen Lager, den missglückten Wortlaut des Gesetzes. Sie befürchten, dass wegen der unklaren Formulierungen die Debatte um kontroverse Punkte vor Gericht fortgesetzt wird.

* die als Beispiel genommene Geschichte ist fiktiv.

Referendum

Das Referendum gegen die neue gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten wurde von einer kleinen Gruppe von Bürgern ergriffen, darunter die Schriftstellerin Sibylle Berg, der junge Aktivist Dimitri Rougy und der Computersicherheitsexperte Hernani Marques.

Die Grünen und die Sozialdemokratische Partei (SP), die sich im Parlament der Revision widersetzt hatten, wollten zunächst auf ein Referendum verzichten, da sie der Ansicht waren, eine Kampagne zum Thema Missbrauch von Sozialleistungen würde sich schwierig gestalten. In der Zwischenzeit unterstützen sie jedoch das Referendum.

Auch im liberalen Lager hat sich ein Komitee gegen die Revision des ATSG gebildet, aus Vertretern der Jungfreisinnigen, der Grünliberalen sowie der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP). Das Komitee kritisiert insbesondere die schlechte Formulierung des Gesetzes, die zu viel Interpretationsspielraum lasse. Zudem betont es die Notwendigkeit, die Privatsphäre der Versicherten zu schützen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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