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«Die Schweizer verehren die Kuh, töten sie aber trotzdem»

Schön geschmückte Kühe beim Alpabzug
Der Alpabzug ist in der Schweiz ein wichtiger Moment, wenn die Kühe dekoriert und mit ihren schönsten Glocken geschmückt von ihren Sommerweiden herunterkommen. Hier der Alpabzug der Fruitières de Nyon (VD) im September 2018. KEYSTONE/ VALENTIN FLAURAUD

Kurz bevor das Schweizer Stimmvolk über die Hörner von Kühen abstimmen wird, analysiert der Soziologe und Ethnologe Bernard Crettaz die manchmal widersprüchliche Beziehung der Schweizer und Schweizerinnen mit ihrem symbolträchtigen Tier.

Kühe haben Bernard Crettaz schon immer fasziniert. Deshalb verfolgt er die Debatte rund um die Hornkuh-InitiativeExterner Link, über die am 25. November abgestimmt wird, mit Interesse.

Der Soziologe und Ethnologe ist im Wallis aufgewachsen, in einer Bauernfamilie im Val d’Anniviers (Eifischtal). Für seine Forschungen über die Eringer-Rasse und die Bedeutung der Kuh in der Schweiz reiste er kreuz und quer durch die Alpen und Voralpen.

swissinfo.ch:Wie kam es zu dieser Verbindung zwischen der Schweiz und der Kuh?

Bernard Crettaz: Im Mittelalter wurde die Schweiz eher verächtlich als ein Land von Hirten betrachtet. Doch diese Ansicht wandelte sich im 15. und 16. Jahrhundert, als die Leute aus den grossen Städten wie Basel, Zürich, Bern und Luzern aufbrachen, um die Berge zu erkunden und dort eine Art irdisches Paradies fanden.

All dies erhielt im 18. Jahrhundert mit der Verehrung der Natur weiteren Glanz. Dabei gilt es zwei grundlegende Daten zu beachten: Einerseits die Veröffentlichung eines kleinen Buchs mit dem Titel «Die Alpen» von Albrecht von Haller im Jahr 1732.

Der Berner Universalgelehrte fand, dass die Menschen in den Städten durch Reichtum und Unterhaltung korrumpiert würden. Um Heil zu finden, müsse man aus den Städten heraus in die Berge gehen, um das Volk der Hirten zu treffen, das dort mit seinen Herden glücklich lebe. Von Haller plädierte für eine Rückkehr zur Schule der Natur, und seine Worte lösten in ganz Europa enormen Widerhall aus.

 «Unser Land ist eine Art lebensgrosses helvetisch-alpines Disneyland.»

Das zweite denkwürdige Datum ist 1761, die Veröffentlichung eines spektakulären Bestsellers: «Julie oder die neue Héloise» des Genfers Jean-Jacques Rousseau. Das Buch handelt vom Mythos des Goldenen Zeitalters, einer gesegneten Zeit, in der die Menschen im Glück lebten. Für den Genfer Schriftsteller fand man dieses Glück in den Schweizer Alpen.

Diese beiden Werke zogen eine gigantische Literatur über Berge nach sich, und zahlreiche Darstellungen dieser Umgebung. Dies wurde der eigentliche Anfang der Schweizer Grammatik der Kuh: Das Tier und seine Schönheit, der Alpaufzug und der Alpabzug der Herden, die Glocken, die guten Milchprodukte.

swissinfo.ch: Hat sich das Bild der Kuh später verändert?

Bernard Crettaz
Der Soziologe und Ethnologe und ehemalige Konservator des Ethnographischen Museums Genf, Bernard Crettaz, ist auch einer der Initiatoren der «Cafés mortels » (öffentliche Kaffeehausgespräche über den Tod). Crettaz stammt aus dem Val d’Anniviers im Kanton Wallis und interessiert sich auch für Kühe und Berge. Unter anderem erschienen von ihm die Werke «Le pays où les vaches sont reines» (Das Land, in dem die Kühe Königinnen sind),1986, und «Au-delà du Disneyland alpin» [wörtlich: Über das alpine Disneyland hinaus, N.d.R.],1995. swissinfo.ch

B.C.: Ab Anfang des 19. Jahrhunderts muss man die Kuh auf zwei Pisten verfolgen: Die Kuh als Symbol und die Verbesserung der Schweizer Rinderrassen. Im Parlament kam es zu endlosen Debatten über die Perfektionierung dieser Rassen, über die Ausrichtung von Wettbewerben und Viehmärkten. Es handelte sich um eine gigantische Bewegung, um die Lebensbedingungen in den Bergen zu verbessern.

All dies führte 1896 zur Landesausstellung in Genf, die meiner Ansicht nach die Grundlage bildete für die patriotische Sprache der Schweiz. Die Organisatoren richteten in der Stadt eine permanente Herde ein und erbauten ein «Schweizer Dorf» mit einem Postamt, einer Kirche, einem See, einem Wasserfall und sogar einem künstlichen Berg.

Zu diesem Zeitpunkt entstand denn auch die Idee des Schweizer Paradieses, das es zu schützen gilt. Danach fanden all diese Ideen den Weg zurück in die Alpen, wo die Einheimischen die Kriterien des Unterlands übernehmen sollten. Sie begannen, die Bergwelt als wiedergewonnenes Paradies zu betrachten, ein Bild, das auch von der touristischen Werbung übernommen wurde.

Im Verlauf meiner Forschung in Bergen und Städten bin ich zur Hypothese und schliesslich zur Bestätigung gekommen, dass unser Land eine Art lebensgrosses helvetisch-alpines Disneyland ist. Wir, die Einheimischen, haben nie geglaubt, dass die Berge ein Paradies sind, aber eines Tages haben wir all diese Ideen aufgenommen.

swissinfo.ch: Die einheimische Bergbevölkerung versuchte also, diesem Ideal zu entsprechen?

B.C.: Seit dem 19. Jahrhundert haben Städter den Menschen in den Bergen zwei Dinge gesagt: Modernisiert Euch, übernehmt die Technologien und neuen Methoden, die wir Euch bringen, aber bleibt gleichzeitig archaisch, bewahrt Eure alten Bräuche, denn wir wollen das wahre Paradies finden. Geht man durch Bergdörfer, kann man diese beiden Aspekte sehen.

Man darf nicht vergessen, dass die Schweizer Verehrung der Kuh uns nicht daran hindert, das Tier zu töten und sein Fleisch zu essen, oder Kühe in grosser Zahl zu schlachten, wenn die Gefahr einer Tierseuche droht.

Dies ist die Ambiguität, die seit dem 19. Jahrhundert besteht, zwischen der Kuh als Symbol und der verbesserten Rinderzucht in allen Bereichen, die auf die Steigerung der Produktivität abzielt.

«Glücklich das Land, das über die Hörner von Kühen abstimmen kann!»

swissinfo.ch: Ist dieser Kuh-Mythos heute lebendiger als je?

B.C.: Ja, aber dieser Aspekt der heiligen Kuh, der sich in Form von Statuen und Souvenirs zeigt, hat ein Gegengewicht in einer Art Verachtung für das Tier. Heute sagen gewisse Leute, dass wir keine Milch mehr trinken, kein Fleisch mehr essen sollten.

Es ist dieser Mix, der dazu geführt hat, dass wir das weltweit einzige Land sind, das darüber abstimmen wird, Hornkühe in die Verfassung aufzunehmen. Glücklich das Land, das über die Hörner von Kühen abstimmen kann!

swissinfo.ch: Haben Sie den Eindruck, dass es sich um eine symbolische Abstimmung handelt?

B.C.: Meine Interpretation ist, dass mit der Urbanisation der Schweiz, der «Verstädterung» der Schweiz, eine Rückkehr zur Ursprünglichkeit des Kulturerbes einhergeht. Die Leute sehen lieber Kühe mit Hörnern.

In Soziologie und Geschichte besteht die Ansicht, dass eine Multiplikation von Symbolen und Zeichen auf ein Schwinden in der Realität hinweisen. Durch symbolhafte Zeichen holt man sich zurück, was man in der Realität verliert.

Es gibt viele Kunstschaffende, Grafiker, Werbefachleute, die dabei sind, unglaubliche Dinge zu erfinden, was umso enormer ist, da die Kuh am Verschwinden ist, oder zumindest die Zahl der Kühe drastisch abnimmt. Und selbst wenn man davon ausgeht, dass die Kühe ganz verschwinden werden, die Kuh-Symbole werden sich weiter vermehren.

swissinfo.ch: Ist die Kuh für Schweizer und Schweizerinnen denn heute noch so bedeutend?

B.C.: Ich sehe nicht, wie man sie aus dem Schweizer Gedächtnis löschen könnte, sie ist in uns verankert, in unserer Landschaft, in unseren Museen.

Touristische Rundgänge mögen noch so gerne Technologie oder Uhrmacherei präsentieren, doch auf die alten und unumgänglichen Symbole wie die Kuh, das Matterhorn oder das Schloss Chillon werden sie nicht verzichten.

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Eine Kuh mit Hörnern auf einer Wiese.

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Sind Kühe mit Hörnern glücklicher?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Am 25. November entscheidet das Schweizer Stimmvolk über das Schicksal der Kühe, genauer gesagt über deren Hörner.

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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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