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Homophobie, ein Verbrechen oder eine Meinung?

In der Schweiz, wie überall auf der Welt, ist die LGBTIQ-Community nach wie vor Ziel von Diskriminierung oder Angriffen. Keystone / Jagadeesh Nv

Ist es noch akzeptabel, homosexuelle Personen zu diskriminieren? Diese Frage muss das Schweizer Stimmvolk am 9. Februar 2020 beantworten. Da sie die Meinungsfreiheit bedroht sehen, haben ultrakonservative Kreise ein Referendum eingereicht gegen eine neue Gesetzesnorm, die Homophobie unter Strafe stellt. LGBTIQ-Aktivisten gehen auf die Barrikaden.

In der Schweiz ist das Risiko, dass junge Lesben, Schwule oder Bisexuelle einen Selbstmordversuch begehen, zwei bis fünf Mal so hoch wie bei Heterosexuellen. Diese vom Projekt «Schwule Gesundheit» zusammengestellten Zahlen zeigen das Ausmass des Problems. Zudem sind sexuelle Minderheiten nach wie vor Ziel von zahlreichen Angriffen oder homophoben Äusserungen, über die in den Medien regelmässig berichtet wird.

Die meisten europäischen Länder erliessen in diesem Bereich Gesetze. So haben zum Beispiel Frankreich, Österreich, Dänemark und die Niederlande Gesetze zur strafrechtlichen Verfolgung der Homophobie.

In der Schweiz gibt es dagegen keine Gesetze, die LGBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queer) als Gemeinschaft schützen. Artikel 261bisExterner Link des Strafgesetzbuchs, bekannt als Antirassismus-Strafnorm, bestraft zwar Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, nicht aber aus Gründen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität.

Dieses Defizit führte dazu, dass die Schweiz schon von verschiedenen internationalen Organisationen ermahnt wurde, darunter vom UNO-Menschenrechtsrat im Rahmen seiner letzten allgemeinen periodischen Überprüfung des LandesExterner Link sowie von der Europäischen Kommission gegen Intoleranz.

Konkret kommt das geltende Gesetz im Fall einer körperlichen Aggression nicht zum Zug, wenn ein Angriff aufgrund der sexuellen Orientierung des Opfers erfolgte. Auch allgemeine Bemerkungen wie «Alle Homos in Lager» können rechtlich nicht belangt werden. Zudem verweigert das Bundesgericht Organisationen, die sich für die Rechte von LGBTIQ-Personen einsetzen, die Klagebefugnis.

Die Vorlage des Parlaments

Um sexuelle Minderheiten in Zukunft besser zu schützen, verabschiedete das Parlament daher eine Gesetzesrevision. Sie ist Teil einer Parlamentarischen Initiative, die 2013 vom sozialdemokratischen Abgeordneten Mathias Reynard eingereicht worden war. Die Revision erweitert die geltende Strafnorm gegen Rassismus um den Tatbestand der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung.

Der Ständerat (kleine Parlamentskammer) lehnte es jedoch ab, den Artikel auch auf die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität auszuweiten, das heisst, auf Transgender und Intersexuelle. Die Mehrheit der Abgeordneten war der Ansicht, Geschlechtsidentität sei eine «zu vage» Vorstellung. Intersexuelle oder Transgender-Personen werden daher auch mit dem revidierten Gesetz keinen besseren Schutz geniessen können.

Wer gegen die Antirassismus-Strafnorm verstösst, kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Solche Verstösse werden von Amtes wegen verfolgt (Offizialdelikte). Wird die Revision angenommen, werden die Behörden in Zukunft eingreifen müssen, sobald sie von einem Hass- oder einem Diskriminierungsdelikt erfahren, das aufgrund der sexuellen Orientierung erfolgte.

Organisationen, die sich für Rechte und Schutz der LGBTIQ-Gemeinschaften einsetzen, haben aber auch nach der Revision keinen Parteistatus und so keine Klage- oder Rekursbefugnis.

Wer ist dagegen?

Die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU), eine kleine, ultrakonservative christliche Partei betrachtet die neue Strafnorm als eine Bedrohung der Meinungsfreiheit. Die Partei, die 2004 schon den Aufstand gegen die eingetragene Partnerschaft angeführt hatte, ergriff das Referendum.

Sie schaffte es, die mindestens 50’000 Unterschriften zu sammeln, die es braucht, um eine Abstimmung zu erzwingen, trotz einer Kontroverse um die Methode beim Sammeln der Unterschriften. Somit werden die Stimmberechtigten am 9. Februar 2020 das letzte Wort in der Frage haben, ob es in der Schweiz akzeptabel bleibt, Lesben und Homosexuelle zu diskriminieren.

Zwei Komitees führen die Kampagne gegen die neue GesetzesnormExterner Link, die Homophobie unter Strafe stellt. Das erste besteht hauptsächlich aus Mitgliedern der EDU und der Schweizerischen Volkspartei (SVP/rechtskonservativ), das zweite aus LGBTIQ-Personen, die nach eigenen Aussagen die selben Rechte, aber keine besonders auf sie ausgerichteten Schutzmechanismen wollen.

Diese Gegner und Gegnerinnen bezeichnen die Erweiterung von Art. 261bis des Strafgesetzbuchs als «Zensurgesetz». Was befürchten sie, in Zukunft nicht mehr sagen zu dürfen?

Marc Früh, Leiter der EDU in der französischsprachigen Schweiz, erklärte gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (Radio Télévision Suisse, RTS), «ein Arzt sollte in der Lage sein, die positiven, aber auch die negativen Seiten der Homosexualität zu erklären», ohne dabei allfällige Klagen befürchten zu müssen.

Das Komitee ist auch der Ansicht, dass ein Hotelbesitzer in der Lage sein sollte, sich aus Gewissensgründen zu weigern, einem homosexuellen Paar ein Zimmer zu vermieten, oder dass ein Bäcker sich weigern dürfen soll, für ein solches Paar einen Hochzeitskuchen zu backen.

+ Das ganze Interview mit EDU-Vertreter Marc Früh

Wer ist dafür?

Mit Ausnahme der SVP unterstützen alle grossen Parteien und die Regierung die Vorlage des Parlaments und wollen sexuelle Minderheiten besser schützen. Nach der Einreichung des Referendums gründeten Organisationen, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen und Bisexuellen einsetzen, das Komitee «Ja zum Schutz vor Hass»Externer Link.

Das Komitee ruft in Erinnerung, dass eine Person, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Opfer eines körperlichen Angriffs oder einer persönlichen Beleidigung geworden ist, die Möglichkeit hat, selber Klage einzureichen. Betrifft die Verunglimpfung jedoch eine ganze Gruppe, zum Beispiel Homosexuelle, «sind die geltenden Gesetze nutzlos».

«Gewisse Reden sind eine Aufstachelung zur Gewalt. Es ist dieser Hass, der einen Vater dazu bringt, seinem Sohn die Kehle zu durchschneiden, weil dieser schwul ist, oder der dazu führt, dass zwei Frauen auf offener Strasse verprügelt werden, weil sie sich als Paar die Hände halten», erklärte Muriel Waeger, die Westschweizer Direktorin von Pink Cross und der Lesbenorganisation Schweiz (LOS), in einem CommuniquéExterner Link.

Fehlende Zahlen

Das Problem der Homophobie in der Schweiz ist schwer zu quantifizieren, da die Behörden homophobe Verbrechen bisher nicht erfassen. Seit November 2016 dokumentiert die Meldestelle LGBT+ HelplineExterner Link Vorfälle von Homophobie oder Transphobie, die ihr gemeldet werden. Zwischen November 2016 und Dezember 2017 waren es 95 Fälle, im Durchschnitt fast zwei pro Woche.

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Die Organisationen, die sich für die Belange von LBGTIQ-Menschen einsetzen, sind überzeugt, dass diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Aus diesem Grund fordern sie schon seit mehreren Jahren umfassende nationale Statistiken zu diesem Problem.

Letzten September nahm der Nationalrat (grosse Kammer) eine entsprechende Motion der Abgeordneten Rosemarie Quadranti von der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP/rechtsbürgerlich) an. Der Vorstoss muss noch im Ständerat behandelt werden.

Parlamentarische Vorstösse, die eine statistische Erfassung und Registrierung solcher Hassverbrechen verlangen, wurden auch in dreizehn Kantonen eingereicht. Die Stadt Zürich hat sich ihrerseits bereits verpflichtet, diese Zahlen zu erheben.

Zahlen aus Studien in anderen Ländern lassen jedoch einen besorgniserregenden Trend erkennen. In Frankreich nahm die Zahl homophober Taten 2018 nach Angaben des Innenministeriums um 34,3% zu. Die Vereinigung SOS-Homophobie meldete sogar einen Anstieg um 42% der Fälle von Lesbophobie.

Rassismus-Strafnorm

Artikel 261bisExterner Link des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, die Strafnorm gegen Rassismus, trat am 1. Januar 1995 in Kraft. Der Gesetzesartikel war verabschiedet worden, nachdem das Parlament 1993 dem Beitritt der Schweiz zur UNO-Konvention vom 21. Dezember 1965 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung zugestimmt hatte.

In ihrer BotschaftExterner Link hatte die Regierung (Bundesrat) erklärt, bewusst auf die Aufnahme anderer Kriterien wie «das Geschlecht, die sexuelle Ausrichtung, die Weltanschauung» verzichtet zu haben, weil dies den Rahmen der Gesetzesrevision gesprengt hätte.

Das Parlament hatte in der Folge beschlossen, den Entwurf der Regierung durch ein Verbot der Leugnung, der groben Verharmlosung oder Rechtfertigung von Genozid und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ergänzen.

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