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Die reiche Elite der Schweiz im Visier

Künstlerische Darstellung einer Hand, die ein Spielzeugfabrikgebäude mit verschiedenen Symbolen hält
Die 99%-Initiative zielt auf die Superreichen ab, aber deren Gegnerschaft warnt, dass sie kleinen Unternehmen schaden und die unternehmerische Innovation untergraben würde. akg-images

Ein linker Vorschlag fordert eine Kapitalgewinnsteuer auf Aktien, Dividenden, Mieten und Vermögen. Damit soll die wachsende finanzielle Ungleichheit in der Schweiz bekämpft werden.

Die 99%-InitiativeExterner Link der linken Jungsozialist*innen der Schweiz (Juso) ist ein weiterer Versuch, die Ungleichheiten bei der Verteilung von Vermögen und Einkommen in der Schweiz zu bekämpfen. Sie will damit die überwältigende Mehrheit im Land abholen, die auf ein Arbeitseinkommen angewiesen ist.

Die Initiative kommt am 26. September landesweit zur Abstimmung, zusammen mit einem Vorschlag zur Zulassung der «Ehe für alle» in der Schweiz. Es wird der dritte Urnengang in diesem Jahr sein, einer der Pfeiler des schweizerischen Systems der direkten Demokratie.

Um was geht es?

Die Jungpartei der Sozialdemokratischen Partei will die Besteuerung von Kapitalerträgen auf nationaler und kantonaler Ebene um den Faktor 1,5 gegenüber der ordentlichen Einkommenssteuer erhöhen. Betroffen wären Dividenden und Aktien sowie Zinsen auf Vermögen und Mieten.

Gewinne unter 100’000 Schweizer Franken sollen nicht dem höheren Steuersatz unterliegen. Leistungen der Sozialversicherung und Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit wären ebenfalls von der Steuer befreit.

Die potenziellen Einnahmen für Bund und Kantone werden von den Befürworterinnen und Befürwortern auf jährlich zehn Milliarden Franken geschätzt. Sie sollen gemäss der vorgeschlagenen Verfassungsänderung für die Entlastung von mittleren und tiefen Einkommen sowie für die Sozialhilfe verwendet werden. Weitere Einzelheiten soll das Parlament festlegen.

In der Schweiz gibt es derzeit keine nationale Abgabe auf Kapitalgewinne. Aber viele Kantone, die über eine weitreichende Steuerautonomie verfügen, erheben von Reichen eine Vermögenssteuer.

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Was spricht für die Initiative?

Die Initiantinnen und Initianten argumentieren, dass eine Steuerreform unabdingbar sei, um eine Vergrösserung der Kluft zwischen Arm und Reich zu verhindern. Denn in der Schweiz befänden sich rund 43% des Vermögens in den Taschen von nur einem Prozent der Bevölkerung. Die übrigen 99% der Bevölkerung müssten sich den Rest teilen – daher der Name der Initiative.

Ihr Vorschlag sei ein Schritt zu mehr Gleichberechtigung, behaupten die Initiantinnen und Initianten. Falls die Stimmberechtigten die Initiative annehmen, würde sie der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zugutekommen. Namentlich durch höhere Gehälter, bessere Kinderbetreuungs- und Weiterbildungs-Angebote sowie günstigere Krankenversicherungs-Prämien.

Das Initiativkomitee verweist auch darauf, dass Menschen mit grossen Vermögen in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere Steuererleichterungen gewährt worden seien. Dazu gehören die Halbierung der Vermögenssteuer, die Senkung der Unternehmenssteuern und der Stempelsteuer (Steuer auf Finanztransaktionen) sowie die Abschaffung der landesweiten Vermögensabgabe und der Erbschaftssteuer in vielen der 26 Kantone des Landes.

Was spricht gegen die Initiative?

Die Gegnerinnen und Gegner argumentieren, die Vorschläge seien nicht notwendig, würden der Wirtschaft und der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz schaden und keine Umverteilung des Reichtums bewirken. Die möglichen finanziellen Auswirkungen der Initiative seien nicht abschätzbar, heisst es.

Der Bundesrat betont, die Kluft zwischen Arm und Reich sei in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern nicht dramatisch. Das derzeitige System von Steuern und Sozialleistungen schaffe eine ausgewogene Verteilung des Wohlstands.

Der Schweizer Wirtschafts-Dachverband Economiesuisse warnt davor, dass kleine und mittlere Unternehmen sowie die Arbeitnehmenden den Preis für eine Annahme der Initiative bezahlen würden.

In ähnlicher Weise sagen die wichtigsten politischen Parteien von der Rechten bis zur Mitte, dass ein Abfluss von Investitionen und der Mangel an Innovation aufgrund höherer Steuern die Schliessung vieler Familienunternehmen zur Folge haben könnte. Diese würden bereits unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie leiden.

Warum stimmt die Schweiz darüber ab?

Die Juso haben nach eigenen Angaben innerhalb von 18 Monaten mehr als 130’000 Unterschriften für ihre Initiative gesammelt, wie es die gesetzlichen Richtlinien vorsehen. Rund 110’000 gültige Unterschriften wurden im April 2019 an die Bundeskanzlei übergeben.

Damit in der Schweiz eine Volksinitiative landesweit zur Abstimmung kommt, braucht es mindestens 100’000 Unterschriften von Schweizer Stimmberechtigten. Wird sie an der Urne angenommen, wird die Bundesverfassung entsprechend ergänzt oder abgeändert.

In der Geschichte der Schweiz sind mehr als 220 Initiativen zur Abstimmung gekommen. Aber nur 23 haben laut offiziellen Angaben eine Mehrheit an der Urne gefunden.

Wer ist dafür, wer dagegen?

Die Sozialdemokratische Partei (die Juso-Mutterpartei) und die Grüne Partei unterstützen die Initiative. Auch die Gewerkschaften haben die Annahme der Initiative empfohlen.

Alle anderen grossen politischen Parteien, die Mehrheit des Parlaments, die Regierung und die Wirtschaft haben sich gegen den Vorschlag ausgesprochen. Sie empfehlen, am 26. September ein Nein in die Urne zu legen.

Erfolgreich beim dritten Versuch?

Dies ist das dritte Mal, dass die Juso eine Volksinitiative zur landesweiten Abstimmung bringen. Im Jahr 2013 lehnte das Stimmvolk einen Vorschlag zur Deckelung der Gehälter von Spitzenmanagern ab.

Ebenfalls Schiffbruch erlitt drei Jahre später eine Initiative zur Bekämpfung von Armut und Hunger in der Welt. Sie wollte den Finanzinstituten in der Schweiz die Spekulation mit Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen verbieten.

Steuer-Voten: Häufig, aber meist erfolglos

Steuerfragen kamen in den letzten Jahrzehnten regelmässig zur Abstimmung. Die meisten Verfassungsänderungen fanden aber an den Urnen keine Mehrheit.

Aber auch die Regierung und das Parlament haben eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Die Stimmberechtigten billigten keinen der in den letzten 20 Jahren von den grossen Parteien eingebrachten Reformvorschläge. Alle Versuche, die Steuerlast für Familien, Ehepaare und die Kinderbetreuung zu verringern, wurden an der Urne abgeschmettert.

Die Grünen und die Grünliberalen (mit der Energiesteuer-Initiative) setzten sich erfolglos für eine ökologische Steuerreform ein. Die Sozialdemokraten und die mit ihnen verbündeten Gewerkschaften nahmen in der Regel die Privilegierten und Wohlhabenden ins Visier, ebenfalls ohne Erfolg: Vorschläge zur Abschaffung der Pauschalsteuer für reiche Ausländer oder eine Reform der Besteuerung von geerbten Vermögen sind allesamt gescheitert.

Ein erster Versuch des Gewerkschaftsbunds, eine Kapitalgewinn-Steuer einzuführen, scheiterte im Jahr 2001. Und den Sozialdemokraten erging es letztes Jahr nicht besser, als die Stimmberechtigten ihr Veto gegen Steuererleichterungen einlegten, von denen ihrer Meinung nach wohlhabende Familien mit Kindern profitiert hätten.

Zwei weitere Initiativen könnten in den nächsten Jahren zu einer landesweiten Abstimmung kommen. Ein Komitee versucht, die notwendige Unterstützung der Stimmbevölkerung für die Einführung einer Mikrosteuer auf Finanztransaktionen zu gewinnen. Und eine andere Gruppe hat kürzlich die Unterschriftensammlung für eine Reform des Steuersystems für Privatpersonen gestartet.

Die Schweiz erhebt Steuern auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, wobei die Kantone ihre eigenen Steuersätze festlegen. Die Steuern sind im Allgemeinen tiefer als in vielen anderen europäischen Ländern.

Die 26 Kantone behalten die Hoheit über die Steuersätze. Das bedeutet, dass die Steuersätze im ganzen Land unterschiedlich hoch sind.

Die Steuersätze sind gestaffelt nach der Höhe des Einkommens und des Vermögens sowie nach dem Familienstand. Jede Person, die über 18 Jahre alt ist, muss Steuern zahlen.

Bei ausländischen Arbeitnehmenden ohne C-Ausweis werden die Steuern direkt vom Lohn abgezogen. Schweizerinnen und Schweizer sowie Ausländerinnen und Ausländer mit Ausweis C müssen jedes Jahr eine Steuererklärung ausfüllen. Der zu zahlende Betrag richtet sich nach Verdienst und Vermögen.

Die Eidgenössische SteuerverwaltungExterner Link bietet weitere Informationen.

Das Portal «ch.ch» bietet auch einen nützlichen Überblick über die verschiedenen anderen SteuerartenExterner Link, die in der Schweiz erhoben werden: Fahrzeug-, Vermögens-, Immobilien-, Haustiersteuern, usw.

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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