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Die Schweiz entscheidet über die Zukunft der Ehe

Zwei Frauen in Hochzeitskleidern
Anthony Anex/Keystone

Diese gesellschaftliche Debatte hat in den meisten europäischen Ländern bereits stattgefunden. Die Schweiz aber steht erst am Anfang: Am 26. September wird das Stimmvolk darüber entscheiden, ob Homosexuellen das Recht zugestanden wird, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die Befürwortenden der Ehe für alle stehen Verfechtern christlicher Werte und der traditionellen Familie gegenüber.

Mit Italien, Griechenland und Liechtenstein ist die Schweiz eines der letzten vier Länder in Westeuropa, die Homosexuellen nicht das Recht auf Eheschliessung gewähren. In der ILGA-Europa-Rangliste zur Gleichberechtigung von LGBTIQ-PersonenExterner Link liegt die Eidgenossenschaft auf Platz 23, knapp vor Estland und Serbien.

Am 26. September wird sie Gelegenheit haben, aufzuholen bei den Rechten für LGBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queers): Die Stimmberechtigten werden über einen Entwurf zur Zivilehe für alleExterner Link abstimmen. Dieser sieht auch den Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung (MAP) für weibliche Paare vor.

Worum geht es?

Heute können zwei Frauen oder zwei Männer lediglich eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Jedes Jahr lassen etwa 700 Paare ihre Verbindung auf diese Weise offiziell anerkennen.

Eingetragene Lebenspartner haben in vielerlei Hinsicht die gleichen Rechte und Pflichten wie verheiratete Ehepartnerinnen und -partner. So können sie beispielsweise einen gemeinsamen Familiennamen wählen, sind im Fall der Kündigung eines Mietverhältnisses geschützt und erhalten einen Anteil am Erbe oder an der Altersrente ihrer Ehepartnerin oder ihres Ehepartners. Seit 2018 können auch gleichgeschlechtliche Paare das Kind der Partnerin oder des Partners adoptieren.

Was wird sich also mit der Ehe für alle in der Praxis ändern? Falls das Stimmvolk am 26. September Ja sagt, sollen auch verheiratete homosexuelle Paare gemeinsam ein Kind adoptieren können. Handelt es sich bei einem der Partner um eine Ausländerin oder einen Ausländer, so kann diese Person von einem kürzeren und kostengünstigeren Einbürgerungsverfahren profitieren.

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Zudem sollen verheiratete Frauenpaare in der Schweiz Zugang zur Samenspende erhalten. Da die Schweizer Gesetzgebung eine anonyme Spende verbietet, wird das Kind im Alter von 18 Jahren die Identität des Samenspenders erfahren dürfen, und beide Frauen sollen von Geburt an als Mütter anerkannt werden. Wenn sie jedoch eine Samenbank im Ausland nutzen, wird nur die biologische Mutter anerkannt.

Wie in den meisten europäischen Ländern soll die Leihmutterschaft oder die Eizellenspende verboten bleiben. Männlichen Paaren soll nicht gestattet werden, die Dienste einer Leihmutter in Anspruch zu nehmen.

Was wird aus den eingetragenen Partnerschaften?

Ein Ja zur Ehe für alle würde auch das Ende der eingetragenen Partnerschaften bedeuten, die Homosexuellen vorbehalten sind. Gleichgeschlechtliche Paare sollen ihre Partnerschaft in eine Ehe umwandeln oder unter der gleichen Regelung weiterführen können. Es sollen jedoch keine neuen eingetragenen Partnerschaften eingegangen werden können.

Um diese Form der Partnerschaft zu ersetzen, arbeitet die Bundesverwaltung am Projekt eines zivilen Solidaritätspakts (Pacs), wie es ihn in Frankreich gibt. Die Idee wäre, eine Regelung für heterosexuelle oder homosexuelle Paare zu schaffen, die weniger weitreichende rechtliche Folgen hat als die eheliche Regelung.

Die parlamentarische Arbeit an diesem Projekt dauerte sieben Jahre. Es wurde 2013 durch eine parlamentarische Initiative der Grünliberalen Partei (GLP, politische Mitte) ins Leben gerufen. Mehrere Versionen des Texts wurden im Parlament debattiert. Im Dezember 2020 nahm es eine Änderung des Zivilgesetzbuchs an, welche die Ehe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern legalisiert.

Warum stimmt die Schweiz darüber ab?

Nach der Verabschiedung der Ehe für alle durch das Parlament lancierte ein parteiübergreifendes Komitee das Referendum. Ihm gehören hauptsächlich Vertreterinnen und Vertreter der beiden rechtskonservativen Parteien Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) und Schweizerische Volkspartei (SVP) an.

Es gelang ihnen, die mehr als 50’000 Stimmen zu sammeln, die nötig sind, um eine nationale Abstimmung zu erreichen. Das Vetorecht (Referendum) gegen einen Parlamentsbeschluss ist Teil des schweizerischen Systems der direkten Demokratie.

Als das Referendumskomitee am 12. April die Unterschriften bei der Bundeskanzlei einreichte, protestierten LGBTIQ-Aktivistinnen und -Aktivisten dagegen. Keystone / Peter Klaunzer

Was sind die Hauptargumente für den Gesetzentwurf?

Für die Befürwortenden der Ehe für alle geht es vor allem um die Abschaffung der Ungleichbehandlung. Die Ehe für alle bedeute, dass alle Paare die gleichen Rechte und Pflichten haben. «Der Staat soll private Beziehungen nicht werten und den Menschen auch nicht vorschreiben, wie sie ihr Privat- und Familienleben zu gestalten haben», sagte Justiz- und Polizeiministerin Karin Keller-Sutter bei der Vorstellung der Kampagne.

Das Projekt ermögliche auch eine Anpassung des Gesetzes an die Realität der Schweizer Gesellschaft, argumentiert die Pro-Seite. Zudem biete die Ehe für alle den Tausenden von Kindern, die bereits mit zwei Müttern oder zwei Vätern leben würden, einen besseren Rechtsschutz.

Die Öffnung der Ehe für Homosexuelle habe auch einen symbolischen Wert. «Es ist eine längst überfällige gesetzliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Liebe», schreibt das nationale Komitee Ehe für alleExterner Link.

Es weist darauf hin, dass in Ländern, welche die Zivilehe für alle eingeführt haben, die Suizidrate unter der LGBTIQ-Gemeinschaft zurückgegangen sei und die Vorurteile gegen sie abgenommen hätten, wie mehrere Studien belegen würdenExterner Link.

Was sind die Hauptargumente gegen den Gesetzentwurf?

Die Argumente des Referendumskomitees stützen sich in erster Linie auf die traditionelle Stellung der Ehe in unserer Gesellschaft und die Rolle von Mann und Frau in einer Ehegemeinschaft.

«Die Einführung der Ehe für alle würde bedeuten, eine soziale und politische Bresche zu schlagen, welche die historische Definition der Ehe als dauerhafte Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau aufhebt», schreibt das KomiteeExterner Link in der französischsprachigen Version ihrer MedienmitteilungExterner Link zur Einreichung des Referendums. Sie sind der Meinung, dass «die Ehe die natürliche Verbindung von Mann und Frau ist und bleiben muss, die geschützt werden soll».

Der Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung für weibliche Paare stösst bei der Gegnerschaft ebenfalls auf Unverständnis. Diese Möglichkeit laufe dem Wohl des Kindes zuwider, heisst es. Sie befürchten auch, dass diese Änderungen zur Legalisierung der Leihmutterschaft führen könnten.

Auf einer eher technischen Ebene bedauert das Referendumskomitee die Tatsache, dass die Ehe für alle durch eine einfache Gesetzesänderung hätte eingeführt werden sollen, ohne dass die Verfassung abgeändert worden wäre.

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Wer ist dafür, wer dagegen?

Die Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare kann auf eine breite Unterstützung aus dem gesamten politischen Spektrum zählen. Mit Ausnahme der SVP befürworten alle Regierungsparteien das Projekt, ebenso wie die Grünen und die Grünliberalen.

Auch ein grosser Teil der Bevölkerung scheint bereit für diesen gesellschaftlichen Wandel. Im November 2020 ergab eine Umfrage des Instituts gfs.bernExterner Link, dass 80% der Schweizerinnen und Schweizer die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare befürworten.

Sogar in religiösen Kreisen gibt es eine Tendenz zur Öffnung. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) hat sich bereits im November 2019 für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf ziviler Ebene ausgesprochen. Die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) und das evangelische Netzwerk Schweiz sind jedoch weiterhin dagegen.

Wie ist die Situation weltweit?

Am 1. April 2001 haben die Niederlande als erstes Land der Welt die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. In diesem Jahr, genau 20 Jahre später, ist sie in 29 Ländern erlaubt. In fast allen diesen Ländern können gleichgeschlechtliche Paare auch Eltern werden und ein Kind adoptieren.

Weltkarte mit Rechten für Homosexuelle
ILGA World

Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurde das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe in den meisten westlichen Ländern, in Europa, Nord- und Südamerika, aber auch in Südafrika und Taiwan anerkannt.

In anderen Weltregionen sieht das Bild jedoch wesentlich anders aus. Homosexualität wird in Afrika, Asien und im Nahen Osten nach wie vor weitgehend unterdrückt. In etwa 70 Ländern werden homosexuelle Beziehungen verurteilt. Die Strafen reichen von verschiedenen Formen der Folter bis hin zu Zwangsarbeit. Und in zehn Ländern wird Homosexualität sogar mit der Todesstrafe geahndet.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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