Die Reform der Verrechnungssteuer findet keine Mehrheit
52% der Schweizer Stimmberechtigten lehnten die Vorlage zur Reform der Verrechnungssteuer ab. Das Resultat ist ein knapper Erfolg für die Linke – nach einem Abstimmungskampf, in dem Fakten und Prognosen bis zum Schluss umstritten blieben.
Das Verrechnungssteuer-Referendum war erfolgreich. 52,01% stimmten gegen die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer. Die Stimmbeteiligung lag mit 51,7% leicht unter jener der anderen schweizweiten Vorlagen an diesem Abstimmungssonntag.
In der Vorlage ging es um die Abschaffung eines Steuersatzes von 35% auf Zinsen von in der Schweiz ausgegebenen Obligationen. Mit der Nein-Mehrheit bleibt diese Steuer.
Reaktionen am Abstimmungssonntag
«Es war doch relativ knapp», sagte SVP-Nationalrat Thomas Matter, der sich für die Vorlage eingesetzt hatte, gegenüber SRF, als sich am Nachmittag bereits eine Nein-Mehrheit abzeichnete. Matter sagte weiter: «In den letzten fünf, sechs Jahren wurde jede Steuervorlage bachab geschickt.» Ein Referendum habe es bei komplexen Vorlagen, wie dieser, zudem immer leicht. «Eine komplexe Vorlage kann man nicht gewinnen.»
SP-Nationalrätin Priska Birrer-Heimo, die sich für das Referendum eingesetzt hatte, sagte gegenüber SRF: «Die Urne korrigiert die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament.» Birrer-Heimo führte das im Verhältnis zu anderen Steuervorlagen knappe Resultat darauf zurück, dass die Wirtschaftsverbände dieses Mal «die Reihen geschlossen haben» und sich etwa auch der Bauernverband an der Seite von EconomieSuisse und SwissBanking für die Vorlage einsetzte.
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Der Kampf um die Steuerhürden
Im Abstimmungskampf warben die Sozialdemokratische Partei, die Grünen und die Gewerkschaften mit dem Hauptargument für das Referendum, dass die Reform zu Steuergeldeinbussen in sechsstelliger Höhe führe und diese Millionen direkt «in die Taschen von Steuerkriminellen abwandern».
Die Regierung wollte mit der Reform der Verrechnungssteuer Wettbewerbsnachteile der Schweizer Wirtschaft ausräumen und Schweizer Unternehmen motivieren, Obligationen im Land selbst auszugeben.
Regierung und Parlamentsmehrheit erwarteten, dass mit der Vorlage abgewanderte Arbeitsplätze zurückkommen. Wie die Gegenseite argumentierten sie aber auch mit Steuereinnahmen: Die höhere Attraktivität inländischer Obligationen ohne Verrechnungssteuer hätte Steuereinnahmen aus dem Ausland in die Schweiz zurückgeholt.
Die Bankiervereinigung SwissBanking prangerte die Verrechnungssteuer als «selbstverschuldetes Problem» an. Die Schweiz solle aufhören, «Steuern, Arbeitsplätze und AHV-Beiträge ans Ausland zu verschenken». Laut dem Lobbyverband der Banken hätten Unternehmen, aber auch Gemeinden, der öffentliche Verkehr und Krankenhäuser mit der Abschaffung dieser Steuer leichter und billiger Finanzierungen finden können.
Gemäss den Berechnungen der Behörden hätte sich die Reform schnell gelohnt: «Im günstigsten Fall könnte sich die Reform bereits im Jahr des Inkrafttretens selbst finanzieren.»
In den Umfragen lag der Anteil Unentschlossener bis zum Schluss bei auffallend hohen 9 bis 12%. Dies hängt damit zusammen, dass nicht nur die Einschätzung der Folgen der Vorlage umstritten blieb – sondern auch die Beurteilung der Ist-Situation.
Konflikte um Zahlen zum Schweizer Kapitalmarkt
Die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf in der Schweiz ausgegebene Obligationen hätte zunächst zu einem Rückgang der Steuereinnahmen geführt. Doch wie hoch dieser ausgefallen wäre, ist schwer zu eruieren. Denn die Höhe des Steuerverlusts hängt von der Entwicklung der Zinshöhe ab. Finanzminister Ueli Maurer nannte einen Verlust in der Höhe von 200 Millionen Franken. Die Linke schätzte die Ausfälle der öffentlichen Hand auf fast 800 Millionen Franken jährlich.
Gemäss der Regierung wäre der Verlust schnell ausgeglichen, weil der Schweizer Kapitalmarkt attraktiver wird. Teilweise zirkulierten astronomische Schätzungen, so äusserte SwissBanking eine Prognose von 900 Milliarden Franken an möglichen Mehreinnahmen durch die Abschaffung der Verrechnungssteuer.
Doch nicht nur bei Zukunftsprognosen, auch bei der Beurteilung der jetzigen Lage im Schweizer Kapitalmarkt gab es entgegenstehende Darstellungen. Bundesrat Ueli Maurer sagte Ende August gegenüber den CHMedia-ZeitungenExterner Link, dass in den letzten 12 Jahren durch die Verrechnungssteuer 60% des Obligationvolumens ins Ausland abfloss.
Diese Zahlen stehen jedoch im Widerspruch zu den Angaben des Schweizer Börsenbetreibers SIX. Gemäss den Zahlen von SIX ist das Volumen der Anleihen auf dem Schweizer Markt zwischen 2013 und 2021 von 80 auf 90 Milliarden Franken gestiegen, wie die Tamedia-ZeitungenExterner Link vergangene Woche berichteten.
Marius Brülhart, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Lausanne, kritisierte während des Abstimmungskampfs in einer Reihe von Tweets, dass die Schweizer Bürger:innen «im Dunkeln» tappen würden. Bei ihrer Entscheidung würden sie sich von «Bauchgefühl und ideologischen Pauschalurteilen» leiten lassen müssen.
Gegenüber swissinfo.ch erklärt Brülhart: «Was mich an der Debatte gestört hat, ist, dass sie von den Befürwortern der Reform so schlecht vorbereitet wurde. Dabei hatten sie Jahre Zeit dazu, weil 2012 eine ähnliche Steuersenkung beschlossen wurde.» Die entsprechenden Grundlagen wären vorhanden gewesen: «Der Finanzsektor schwimmt in Daten.»
Liegt es an der Verrechnungssteuer?
Für Brülhart ist klar, dass der Obligationenmarkt in der Schweiz weniger entwickelt ist als an anderen Finanzplätzen. «Aber ist dieser Unterschied hauptsächlich oder gar einzig auf die Verrechnungssteuer zurückzuführen? Es gibt noch andere Faktoren, die gegen uns sprechen könnten: die Frankenstärke oder die Nichtteilnahme der Schweiz am europäischen Finanzbinnenmarkt. Die Befürworter der Reform haben keine scharfe Analyse vorgelegt, die diese verschiedenen Aspekte aufschlüsselt und die besondere Bedeutung der Verrechnungssteuer aufzeigt», bedauert Marius Brülhart.
Trotz der Komplexität dieser Abstimmungsvorlage und der erschwerten Meinungsbildung – die ja Finanz-Laien noch stärker betrifft als Wirtschaftsprofessor:innen – begrüsst Marius Brülhart, dass solche Themen in der Schweiz von einer Volksabstimmung entschieden werden. «Es ist weltweit einzigartig, dem Volk eine so technische Vorlage zur Abstimmung vorzulegen – im Gegenzug informiert sich dieses über die Inhalte. Überall sonst wäre diese Reform von ein paar Politikern, Lobbyisten und Insidern im Parlament und in den Ministerien beschlossen worden.»
Linke Erfolge in Steuer-Referenden
Entgegen der politischen Mehrheiten bei Wahlen in der Schweiz vertrauen die Stimmberechtigten bei Abstimmungen zur Steuerpolitik oft der Linken. Bereits Anfang Jahr war ein von Linken und Gewerkschaften getragenes Referendum gegen die Abschaffung der Stempelsteuer erfolgreich. Noch an jenem Abstimmungssonntag im Februar prophezeite die bürgerliche NZZ der Linken gute Chancen für das Referendum über die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer.
Im Vergleich zu der deutlichen Nein-Mehrheit von 63% im Februar bei der Stempelsteuer ist das heutige Ergebnis von 52% Nein-Stimmen knapp ausgefallen.
Während es der Linken immer wieder gelingt Steuervorlagen der Parlamentsmehrheit in Volksabstimmungen zu versenken, setzen sich ihre eigenen Ideen für die Steuerpolitik in der Bevölkerungsmehrheit nicht durch: Bei der linken 99%-Initiative legten vor einem Jahr nur 35% der Stimmbürger:innen ein Ja ein.
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