Abwanderung: Jugendliche suchen nach Auswegen
Nicht nur in der Schweiz sind ländliche und Berggebiete von der Abwanderung der Jugend betroffen. Im Dreieck Slowenien – Österreich – Italien geht man mit einem Jugendprojekt den Ursachen auf den Grund und sucht nach Auswegen.
«Was ist nötig, damit ihr euch eine Zukunft in eurer ländlichen Heimat vorstellen könnt? Dies haben wir 16 bis 19-Jährige aus sieben Schulen im Alpen-Adria-Raum gefragt», erklärt Dr. Daniel Bogner, Leiter des Forschungsprojekts «My Featured Space 2025» gegenüber swissinfo.ch.
Im länderübergreifenden Projekt erarbeiten die rund 30 Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Forschenden und Regionalentwicklern Wunschszenarien, wie ihre ländlichen Lebensräume im Jahr 2025 beschaffen sein sollten. Ziel des Projekts: Abklären, wie die Abwanderung der Jugend aus dem ländlich-bergigen Raum gestoppt oder sogar umgekehrt werden könnte.
Regional unterschiedlich
Die Forschungsarbeit wird in einer mehrsprachigen Region durchgeführt. Dabei haben die Wissenschafter erhebliche Unterschiede zwischen den Gebieten ausgemacht: «In Italien ist das Phänomen der Abwanderung am meisten fortgeschritten. In Slowenien bei weitem noch nicht so stark, und Österreich liegt irgendwo in der Mitte», sagt Bogner.
Für ihn hat das damit zu tun, dass sich in Italien die Landwirtschaft fast völlig aus dieser Zone zurückgezogen hat. Dank der Gründung eines Naturparks hat sich die Situation in den letzten Jahren ein wenig entschärft. Dies habe einzelne Leute angeregt, wieder landwirtschaftliche Betriebe zu bewirtschaften.
Die weniger starke Abwanderung in Slowenien begründet Bogner mit dem Umstand, dass in Slowenien noch viel mehr Betriebe in den Bergen wirtschaften. «Und damit leben letztlich auch noch mehr funktionierende Familien in den Landgemeinden.»
Professionelle Hilfe
Befragt man Jugendliche auf der Strasse zum Thema Abwanderung, kommen oft nur spärliche Antworten. «Jugendliche in diesem Alter interessieren sich vor allem für Freizeit und Vergnügen, nicht für die Problematik in ihren Regionen», bestätigt Bogner. «Deshalb haben wir die Jugendlichen als ersten Schritt mit bewusstseinsbildenden Übungen zum Thema Abwanderung hingeführt.»
Konkret wurden die Kursteilnehmenden aufgefordert, «Videointerviews in ihren ländlichen Gemeinden zu machen, mit Menschen, die dort leben und arbeiten», erzählt Bogner. «Sie sollten in ihren Interviews darauf schauen, woran es liegt, dass die ländlichen Gebiete immer schwächer werden.»
Als Motivation und damit die Arbeiten von den Forschern ausgewertet werden konnten, erhielten die jungen Menschen von einem professionellen Filmer einen Crash-Kurs für Video-Porträts.
«Damit konnten wir die Jugendlichen emotional ansprechen, aufwecken und sensibel machen für die Problematik. Ausserdem haben die jungen Leute festgestellt, dass ländliche Regionen auch sehr viel Positives zu bieten haben, und dass es wert ist, sich dort zu engagieren», so Bogner.
Innovation
Nach Auswertung und Präsentation der Videos, welche die Jugendlichen in ihren Heimatgemeinden erstellt hatten, wurde ein weiterer Schritt eingeleitet: die Erarbeitung von konkreten Projekten.
Was braucht es, damit sich die Jugendlichen vorstellen können, in ihren ländlichen Gebieten zu bleiben? «Am wichtigsten sind die frischen Ideen der Jugendlichen», erklärt Projektleiter Bogner. «Eine starke Bedeutung haben auch soziale Netzwerke sowie Partizipation und finanzielle Mittel, um die Projekte nachher zu verwirklichen.»
Man stehe zwar noch am Anfang, aber es seien schon einige gute Ideen vorgebracht worden. «Eine Gruppe möchte ein Car-Sharing für Jugendliche aufziehen, damit diese mobiler sind. Denn der öffentliche Verkehr in den ländlichen Gegenden ist meist nicht sehr attraktiv», sagt Bogner.
Andere Gruppen wollen in ihren Regionen Musik- oder Kulturfestivals organisieren und damit Leute anziehen und Wertschöpfung generieren. Wieder andere planen die Schaffung touristischer Outdoor-Aktivitäten für Jugendliche.
Unvoreingenommene junge Leute
Damit die Ideen keine Luftschlösser bleiben, werden die Projekte im nächsten Schritt konkret auf ihre Machbarkeit überprüft. Dies beinhaltet auch die Evaluation der finanziellen Ressourcen.
«Wenn die Projekte dann gut ausgearbeitet sind, werden sie in den Gemeinden den Bürgermeistern oder Tourismusmanagern vorgestellt», erklärt Bogner das weitere Vorgehen. «Und dann werden wir mit den Leuten an die Umsetzung dieser Projekte gehen.»
Wichtige Parameter
Die Forscher haben mit den Jugendlichen Parameter herausgearbeitet, welche ihre Lebensqualität beeinflussen und damit natürlich über Bleiben oder Nicht-Bleiben mit entscheiden.
«Ganz wichtige Parameter sind soziale Netzwerke, Kulturvereine und Orte, wo sich Menschen engagieren, weil es ihnen wichtig ist, in der Gemeinde etwas zu tun. Aber auch innovative und kooperationsbereite Bürgermeister gehören dazu», so Bogner.
Der Projektleiter beschreibt die jungen Leute als sehr unvoreingenommen: Sie brachten eine breite Palette von Vorschlägen, die von Freizeitangeboten über Mobilitätskonzepte bis zum Urlaub auf dem Bauernhof reichen. Und dabei hätten sie offenbar das Gefühl gewonnen, die Entwicklung bis zu einem gewissen Grad selbst steuern zu können.
«Sie haben erkannt, dass es auch an ihnen liegt, in der Gemeinde etwas zu verändern. Sie sind überzeugt, dass sie die Lebensqualität ihrer Gemeinden erhöhen können, sonst wären sie nicht mit so einer Begeisterung dabei.»
Vertiefte Auseinandersetzung mit Computerspiel
Um diese Überzeugung zu vertiefen, wird zur Zeit an einem Computerspiel gearbeitet. Damit sollen Zusammenhänge verdeutlicht und eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik erreicht werden.
Am Spiel können gleichzeitig mehrere Akteure teilnehmen. Sie treten zum Beispiel als Bürgermeister, Tourismus-Chef oder Gewerbetreibende gegeneinander an. «Im Resultat wird sich zeigen, wie weit sie gemeinsam an einem Strang ziehen oder ob sie gegeneinander arbeiten. Und das wird den Schülerinnen und Schülern auch zu Erkenntnissen verhelfen», sagt Bogner.
«My Featured Space (Sept. 2009 bis Mai 2011) ist ein Projekt, an dem Forschende und Regionalentwickler mit Jugendlichen aus dem Alpen-Adria-Raum (Slowenien, Österreich, Italien), klären wollen, wie die Abwanderung der Jugend aus dem ländlich-bergigen Raum gestoppt oder allenfalls umgekehrt werden könnte.
Dazu entwickeln sie Wunschszenarien, in denen sie sich eine Zukunft auf dem Land vorstellen können.
Das Projekt ist in vier Phasen eingeteilt:
1. Phase: Die 16 bis 19-jährigen Schülerinnen und Schüler dokumentieren mit Methoden der qualitativen Sozialforschung und Videos ihren Lebensraum. Bei der Auswertung werden Parameter für die Lebensqualität definiert.
2. Phase: Die Parameter werden mit Hilfe des Sensitivitätsmodells nach Frederik Vester geprüft und die wechselseitige Wirkung beschrieben.
3. Phase: Entwicklung von Szenarien für den Wunschlebensraum. Die Systemveränderungen werden von den Jugendlichen besprochen und die Auswirkungen beschrieben.
4. Phase: Verknüpfung der von den Jugendlichen erstellten Szenarien in ein computergestütztes Simulationsmodell, respektive -Spiel. Die einzelnen Projekte werden so weit wie möglich umgesetzt.
Das Projekt wird umgesetzt vom Umweltbüro Klagenfurth (Kärnten, Osterreich) unter der Leitung von Dr. Daniel Bogner und finanziert von Österreich, dem Bundesland Kärnten und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums.
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