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Der Weg der Afghanistan-Milliarden nach Genf

Geldwechsler mit einem Bündel Banknoten in Kabul, Afghanistan
Weil die afghanischen Banknoten auseinanderfallen, könnte der neue Fonds für das afghanische Volk die Finanzierung des Drucks neuer Banknoten in Erwägung ziehen. Eine Aufgabe, zu der die afghanische Zentralbank bisher nicht in der Lage war. Keystone / Stringer

Wie gelangten 3,5 Milliarden Dollar, die dem afghanischen Volk gehören, in einen Schweizer Treuhandfonds? Und was soll nun mit dem Geld geschehen?

Wenn ein kriminelles Regime an die Macht gelangt, reagiert die internationale Gemeinschaft oft mit Sanktionen. Das Einfrieren von Währungsreserven ist eine davon.

Afghanistan erlitt genau dieses Schicksal kurz nach der Machtübernahme der Taliban im August vergangenen Jahres: Die Auslandguthaben des Landes in Höhe von rund neun Milliarden Dollar wurden in den USA, Europa sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten eingefroren.

Seitdem standen die USA unter Druck, die rund sieben Milliarden, die bei der New Yorker Federal Reserve Bank eingelagert waren, an die afghanische Zentralbank DAB zurückerstatten.

Zahlreiche prominente Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlerExterner Link, darunter der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, forderten Präsident Joe Biden in einem Schreiben auf, das Geld freizugeben, damit die angeschlagene Wirtschaft Afghanistans angekurbelt werden konnte.

«Das Einfrieren von Zentralbankreserven ist ein ziemlich normaler Vorgang, aber dieser Fall ist wirklich einzigartig», sagt Alexandra Baumann, Leiterin der Abteilung Wohlstand und Nachhaltigkeit im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). «Wir haben es hier mit einer absolut desolaten Wirtschaftslage zu tun, zugleich hat Afghanistan keine echte Regierung.»

Zu den Krisen, mit denen die Bevölkerung konfrontiert ist, gehören der jahrzehntelange Krieg, die jahrelange Dürre und die drastischen Einschränkungen der Taliban, einschliesslich des Rechts der Frauen auf Arbeit.

Die USA standen vor einem komplexen aussenpolitischen Rätsel: Wie kann man dem afghanischen Volk helfen, indem man ihm Zugang zu diesem Guthaben verschafft, und zugleich verhindern, dass die Gelder in die Hände der Taliban-Machthaber fallen? Die militante Gruppierung unterliegt den US-Sanktionen und wird nicht als legitime Regierung anerkannt.

Zugleich mussten die USA auch sicherstellen, dass die sieben Milliarden nicht in Zivilklagen von Opfern der Terroranschläge vom 11. September 2001 verwickelt wurden – ein weiterer erschwerender Faktor.

Daher wandten sich die USA an die Schweiz als unabhängige Partei, um eine spezielle Vereinbarung zu treffen. Der Plan sieht vor, dass die Hälfte der Reserven an eine Stiftung in Genf überwiesen wird, den so genannten Fonds für das afghanische Volk. Diese will die einen Teil des Geldes zur Förderung der makroökonomischen Stabilität in Afghanistan einsetzen.

«Grosses Dilemma» für die USA

Der Fonds wurde im Februar ins Leben gerufen, Monate nachdem die Reserven vom US-Finanzministerium eingefroren worden waren. Biden unterschrieb eine Verfügung, in der er den Notstand ausrief: Die humanitäre Krise und wirtschaftlichen Turbulenzen in Afghanistan würden auch die Sicherheit der USA bedrohen, argumentierte er.

Die andere Hälfte ist Gegenstand laufender Klagen von Opfern des 11. Septembers und deren Angehörigen. In einem Urteil von 2012 wurden die Taliban und andere Angeklagte wegen der Anschläge zu Schadenersatz in Höhe von sechs Milliarden Dollar zuzüglich aufgelaufener Zinsen verurteilt.

«Nachdem die DAB-Reserven eingefroren wurden, versuchten die Anwälte einiger Opferfamilien, Zugang zu diesen Geldern zu erhalten», sagt William Byrd, Afghanistan-Experte am United States Institute of Peace. «Dies stellte die US-Regierung vor ein grosses Dilemma.»

Das US-Justizministerium hat inzwischen mitgeteilt, dass die Entschädigungen um mehr als die Hälfte gekürzt werden sollen, da sie rechtlich nicht als Strafe angesehen werden dürften. Es ist jedoch umstritten, ob auch nur ein Teil der Rücklagen für die Beilegung dieser Forderungen zur Verfügung gestellt werden sollte.

Denn Fachleuten zufolge gibt es keine Beweise dafür, dass die Taliban an den Anschlägen beteiligt waren. Es ist auch nicht klar, ob die Taliban – oder die Klagenden – Anspruch auf die DAB-Mittel haben.

«Nach US-Recht gehören die Zentralbankreserven eines Landes, das – aus welchen Gründen auch immer – eine nicht anerkannte Regierung hat, nicht dieser Regierung», sagt Byrd. Angesichts der Komplexität sei die Einrichtung eines Treuhandfonds die einzige Lösung gewesen.

Die USA wandten sich an die Schweiz und baten um Hilfe bei der Umsetzung. Nach monatelangen Diskussionen und juristischen Konsultationen wurde im September schliesslich die Genfer Stiftung gegründet.

Wenn das Geld auf einem Konto in der Schweiz liege, sei es viel weniger anfällig für Rechtsstreitigkeiten in den USA, sagt Byrd. «Und das ist eine grosse Errungenschaft.»

Schweizer Glaubwürdigkeit

EDA-Expertin Baumann betont, dass die Schweiz über die von den USA gesuchte Expertise verfüge. Zugleich kann sie sich nicht an einen Präzedenzfall für einen Fonds in genau dieser Form erinnern.

«Die USA haben sich an die Schweiz gewandt, weil wir viel Erfahrung darin haben, in schwierigen diplomatischen und finanziellen Situationen innovative Lösungen zu finden», sagt Baumann.

Als Beispiel nennt sie das Humanitarian Trade Arrangement, einen Zahlungsmechanismus, den die Schweiz vor zwei Jahren geschaffen hat, um Hilfslieferungen an den Iran zu ermöglichen, ohne dabei gegen die US-Sanktionen zu verstossen.

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«Es ist gut, dass die Schweiz eingesprungen ist. Ich weiss nicht, ob jemand anderes in der Lage gewesen wäre, den Fonds glaubwürdig zu übernehmen», sagt Byrd. Die Taliban hingegen bezeichneten den Entscheid, den Genfer Fonds einzurichten, als «inakzeptabel» und als Verstoss gegen die internationalen Normen.

Sowohl Washington als auch Bern wollen nun, dass die Stiftung einen Teil des Geldes zur Unterstützung der afghanischen Wirtschaft auszahlt und den anderen bewahrt, damit dieser eines Tages an die DAB zurückgegeben werden kann.

Allerdings erst, wenn die Institution frei von Einflüssen der Taliban ist und über angemessene Massnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche verfügt. Zwei von den Taliban ernannte Spitzenbeamte des DAB unterliegen internationalen Sanktionen.

«Die DAB in seiner jetzigen Form ist kein geeigneter Ort für dieses Geld», sagt Baumann. «Wir hätten keine Garantie, dass es wirklich zum Wohl des afghanischen Volks eingesetzt würde.»

Baumann wird als Schweizer Vertreterin im Stiftungsrat des Fonds Einsitz nehmen, zusammen mit zwei afghanischen Staatsangehörigen, die bereits für die DAB gearbeitet haben, sowie dem US-Botschafter in der Schweiz, Scott Miller. Der Stiftungsrat wird über die Verwendung der Reserven entscheiden.

«Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Stiftung einen inklusiven Ansatz verfolgt – dass sie das tut, was die afghanische Bevölkerung will, denn es ist ihr Geld», sagt Baumann. Die Schweiz habe kein Eigeninteresse an diesem Fonds, sondern wolle der Bevölkerung helfen.

Geringe Auszahlungen erwartet

Der Stiftungsrat wird in den kommenden Wochen tagen. Die Schweiz hofft, dass noch vor Jahresende erste Ideen für Auszahlungen bekanntgegeben werden können.

Da der Fonds die makroökonomische und finanzielle Stabilität Afghanistans unterstützen soll, werden die Gelder nicht zur Finanzierung internationaler humanitärer Hilfe verwendet – ein Kriterium, dass die von der Schweiz und den USA konsultierten afghanischen Fachleute betont hätten, ergänzt Baumann.

Die Auszahlungen dürften relativ gering ausfallen. Das sei die richtige Strategie, sagt Byrd, denn kurzfristig einen grossen Betrag auszugeben, wäre «eine vorschnelle Massnahme und würde das Land nicht besser dastehen lassen».

Die in Genf gegründete Stiftung wird über ein Konto bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel verfügen.

Der Stiftungsrat wird im Konsens über die konkrete Verwendung der 3,5 Milliarden Dollar «im besten Interesse des afghanischen Volks» entscheiden. Er wird auch sicherstellen, dass das Geld nicht den Taliban zugutekommt.

Das vierköpfige Gremium setzt sich zusammen aus dem US-Botschafter in der Schweiz, Scott Miller, der auch Präsident des Gremiums ist, EDA-Botschafterin Alexandra Baumann und den ehemaligen DAB-Leitern Anwar ul-Haq Ahady und Shah Mohammad Mehrabi. Ahady und Mehrabi sind auch Mitbegründer der Stiftung.

Es steht dem Vorstand frei, Jede und Jeden zu konsultieren und einen beratenden Ausschuss zu ernennen, in dem afghanische Stimmen vertreten sein können. Alle Entscheide werden öffentlich bekannt gegeben.

Gemäss William Byrd vom United States Institute of Peace entsprechen die Währungsreserven Afghanistans in Höhe von über neun Milliarden Dollar fast der Hälfte des afghanischen Bruttoinlandprodukts oder mehr als den Importen eines Jahres.

Die Reserven könnten beispielsweise als Druckmittel zur Verbesserung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen eingesetzt werden, sagt Byrd. Denn momentan sei es selbst für die Einfuhr von Basisgütern nach Afghanistan schwierig, Handelsfinanzierungen zu erhalten.

Eine weitere praktische Verwendung könnte sein, den Druck neuer afghanischer Banknoten für den täglichen Zahlungsverkehr zu finanzieren. «Die derzeit im Umlauf befindlichen Banknoten fallen auseinander», sagt Baumann. «Die Ausgabe neuer Noten ist grundlegende Aufgabe jeder Zentralbank, doch die DAB ist dazu momentan nicht in der Lage», sagt sie.

Sollte sich der Genfer Fonds als Erfolg herausstellen, könnten sich jene Staaten, die den Rest der eingefrorenen afghanischen Reserven halten – es sind rund zwei Milliarden –, dazu entschliessen, dieses Geld ebenfalls in die Genfer Stiftung einzuzahlen, sagt Byrd.

Der Fonds wird jedoch nicht alle Probleme Afghanistans lösen. Das Land musste nach der Machtübernahme durch die Taliban einen enormen wirtschaftlichen Schock verkraften, sagt Byrd, und «nichts würde diesen Schock angesichts des Ausmasses der Kürzung der ausländischen Hilfe wesentlich lindern». Viele Geberländer zogen ihre Mittel nach der Machtübernahme der Taliban zurück.

Die humanitäre Krise ist so kritisch, dass die UNO ihren grössten Hilfsappell für Afghanistan in Höhe von 4,4 Milliarden Dollar für 2022 gestartet hat. Es sei ein Ziel, das die internationale Gemeinschaft nur mit Mühe erreichen könne, so Baumann. «Die Stiftung wird die DAB nicht ersetzen. Aber sie kann zumindest helfen, die unmittelbare wirtschaftliche Belastung Afghanistans zu lindern.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer

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