Als die Schweiz ihren eigenen «König» hatte
Alfred Escher "regierte" die Schweiz während mehr als 30 Jahren. Er beaufsichtigte die Modernisierung des Landes und den Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels. Ein digitalisiertes Briefarchiv gewährt einen faszinierenden Einblick in den Geist dieses einmaligen politischen Visionärs, dessen Leben in einer Tragödie endete.
Rund 100 Vollzeit-Angestellte arbeiteten während fast zehn Jahren am Projekt, bis im Sommer 2015 das ArchivExterner Link über Alfred Escher eröffnet werden konnte.
Wer im digitalen Archiv herumstöbert, in dem sowohl Transkriptionen wie auch digitale Kopien der Originalbriefe abrufbar sind, kann auf wahre Goldschätze stossen. Sie erzählen viel von diesem aussergewöhnlichen Mann und seinem Vermächtnis.
«Diese 5018 BriefeExterner Link von und an Alfred Escher waren nicht alle bekannt», sagt Joseph Jung, Geschäftsführer und Leiter Forschung der Alfred Escher-Stiftung. «Sie waren wissenschaftlich nicht erforscht und befanden sich in vielen Archiven in- und ausserhalb der Schweiz.»
Rasanter Aufstieg
Eschers Aufstieg durch die kantonale und nationale Politik war kometenhaft. Mit 30 Jahren war er bereits Nationalratspräsident; ein Amt, das er – wie noch nie zuvor jemand – ganze vier Mal bekleiden sollte. Er sass in über 200 nationalen und kantonalen Parlamentskommissionen. Er war ein Arbeitssüchtiger – und er war sich dessen ganz genau bewusst.
«Ich will mich nun nicht darüber beklagen, dass ich vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeiten muss: ich weiss es, ich muss mich benutzen – und abnutzen lassen», schrieb er 1846 an einen Freund.
Man müsse in Eschers Familiengeschichte suchen, um zu verstehen, was diesen Mann angetrieben habe, sagt Jung. Escher stammte aus einer alteingesessenen Zürcher Familie mit internationalen Beziehungen. Sein Vater hatte sich viele Jahre lang in den USA aufgehalten.
Doch es bestand ein Graben zwischen den Eschers und den anderen Zürcher Familien, nicht zuletzt, weil Escher Senior ein prunkvolles Haus gebaut hatte, um seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Und das war etwas, was im farblosen Zürich des Reformationszeitalters nicht gern gesehen wurde.
«Ein anderer Grund war, dass Alfred Escher nicht der konservativen Seite der Politik zugewandt war; er war ein Liberaler», erzählt Jung. «Im Gegensatz zu den Konservativen setzten sich die Liberalen für eine progressive, moderne Schweiz ein. Escher wollte den Konservativen zeigen, dass er, Alfred Escher, der eine moderne Schweiz wollte, seinen eigenen Weg gehen würde.»
Wendepunkt
Die Schweizer BundesverfassungExterner Link, die das Land 1848 vereinte, war ein Wendepunkt. Davor gab es, wie Jung sagt, keinen gemeinsamen schweizerischen Wirtschaftsraum und keine gemeinsame Währung. Bis dahin waren die Kantone unabhängige Staaten gewesen. «Der grösste Feind einer liberalen Schweiz ist die kantonale und schweizerische Unordnung», schrieb ein verzweifelter Escher 1844 in einem Brief.
Das Archiv
Das digitale Briefarchiv des bahnbrechenden Schweizer Staatsmanns Alfred Escher wurde am 1. Juli 2015 in Anwesenheit von Verkehrsministerin Doris Leuthard eröffnet.
Zur Sammlung gehören 5018 Briefe aus den Jahren von 1831 bis 1882.
Sie sind in Transkriptionen und Digitalkopien der Originale zu sehen, also auch in den ursprünglichen Handschriften.
Zu vielen Briefen und Personen sind Kommentare zu lesen.
Die Alfred Escher-Stiftung befindet sich in Zürich, der Heimatstadt Eschers.
Auch wenn es in einigen Bereichen wie der Uhrenbranche einen florierenden Handel gab, war das Land hauptsächlich bäuerlich, arm und hinkte betreffend Infrastrukturen vielen anderen Ländern hinterher.
Nach 1848 kam die Modernisierung in Schwung. Der Schlüssel waren die Eisenbahnen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte in der Schweiz eine einzige Eisenbahnlinie von 23 Kilometern Länge, jene zwischen Zürich und Baden. Im Gegensatz dazu war Grossbritannien mit seinem Netz bereits viel weiter fortgeschritten, ebenso Deutschland und Frankreich.
«Die Schweiz droht somit Gefahr, gänzlich umgangen zu werden und infolgedessen in der Zukunft das traurige Bild einer europäischen Einsiedelei darbieten zu müssen», prangerte Escher 1849 in einer Rede vor dem Nationalrat an.
ETH, Credit Suisse…
Escher spielte eine entscheidende Rolle bei der Vertragsvergabe des Schienenbaus in private Hände. Dies führte zu einem Wettbewerb unter Bahnunternehmen, die Bahngleise zu bauen.
Das so genannte «System Escher», dem Schlüsselfiguren aus Politik, Behörden und Handel angehörten – er war ein grossartiger Netzwerker – war dabei ausserordentlich hilfreich: Ende der 1850er-Jahre war das schweizerische Mittelland überzogen mit Bahnlinien.
«Die Eisenbahnen waren zentral für die ‹Erfolgsgeschichte Schweiz›, denn wenn man Bahnen bauen will, braucht man Ingenieure, Mathematiker und Physiker», sagt Jung.
«Man konnte das damals in der Schweiz nicht studieren, also gründete Escher die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH). Und man brauchte Versicherungen und Risikokapital für die Bahnen, deshalb die Gründung der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse), die ursprünglich eine Investmentbank war, und der Schweizerischen Rentenanstalt (heute Swiss Life) als Versicherung.»
Der Gotthard
Eschers grösster Erfolg aber kam erst in den 1870er-Jahren. Mit dem Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels konnte die entscheidende Verbindung zwischen Nord und Süd hergestellt werden. «Meine Hauptmotive liegen in der Überzeugung, dass der Gotthard uns die kürzere Linie nach Italien bietet & dass er uns einen grossen Theil des Transites von Deutschland nach Italien & vice versa sichert», schrieb Escher 1863.
Das Bauwerk galt damals als Meisterleistung und war laut Jung die grösste Baustelle der Welt. Bis zu 5000 Männer arbeiteten täglich und bohrten sich 15 Kilometer durch den Granit des Bergmassivs – ohne die Hilfe moderner Laser oder Bohrmaschinen.
Doch der Gotthard wurde für Escher auch zur Nemesis. Die Kosten für den Tunnel überschritten das Budget, und Escher wurde gezwungen, als Präsident der Gotthardbahn-Gesellschaft zurückzutreten.
Das war schliesslich sehr schmerzhaft und eine echte Tragödie für Escher, weil er selber nie durch den Tunnel gefahren ist», sagt Jung. «Dieser wurde 1882 eröffnet, als Escher bereits unheilbar krank war.»
Zudem fand zu jener Zeit die Ära des entfesselten Schweizer Wirtschaftsliberalismus› ihr Ende. Ab 1874 betrat eine neue Schweiz die Bühne, mit direkter Demokratie, Interessenverbänden und Gewerkschaften. Das war nicht mehr Eschers Schweiz. So viel Macht, wie er ausübte – er wurde manchmal mit einem König verglichen, der die Schweiz von Zürich aus regierte –, war nicht mehr möglich.
Tragisches Ende
Escher starb 1882, nachdem er sein ganzes Leben lang von Krankheiten heimgesucht worden war. Seine einzige Tochter Lydia, der er sich sehr verbunden fühlte, war an seiner Seite. Seine junge Frau war 1864 gestorben, seine andere Tochter zwei Jahre zuvor.
Escher habe immer das Beste für die Schweiz gewollt, sagt Joseph Jung. Dies hätten seine Feinde nicht immer geschätzt, denen gegenüber er manchmal sehr hart gewesen sei. Sie betrachteten ihn als kontroverse Figur. Seine «harten Kanten» jedoch seien seine Stärke gewesen und hätten ihm erlaubt, den Job zu erledigen, erklärt der Professor.
Ein politischer Bekannter fasste Eschers Weltbild 1877 in einem Brief treffend zusammen. Er pries diesen für seinen Kampf gegen «Missgunst, Selbstsucht & kleinliche Politik». «Thun Sie es auch fernerhin, im Interesse Ihres schönen Heimathkantons, im Interesse des gesammten schweiz. Vaterlandes!», schrieb dieser weiter. «Es ist eine hohe Aufgabe, der Sie obliegen; sie erfordert ein Leben voll Mühe, unausgesetzten Schaffens & Wirkens.»
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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