Alle EU-Varianten geprüft, aber nichts entschieden
Der bilaterale Weg der Schweiz mit der EU wird zusehends holpriger und enger. Die EU will, dass die Schweiz ihren Rechtsbestand übernimmt und damit ihre Souveränität aufgibt. In dieser schwierigen Situation hat der Bundesrat die heisse Kartoffel einer Expertengruppe weitergereicht.
«EWR-Beitritt, ein Rahmenabkommen mit der EU, das sind Worte, die immer wieder gebraucht werden. Der Bundesrat benutzt diese Begriffe bewusst nicht. Wir sagen, der bilaterale Weg hat sich bewährt, aber er ist extrem schwierig geworden», sagt Bundespräsidentin Doris Leuthard vor den Medien.
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey sagt: «Wir haben ein Problem und wir wollen das Problem lösen.» – Frage an die Aussenministerin: «Wie will der Bundesrat das Problem lösen? Mit einem Rahmenabkommen, einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar zur EU?» – Antwort: «Es gibt für uns nicht nur schwarz und weiss, wir suchen nach Lösungen.»
Das Problem: Brüssel hat genug von den Sonderwünschen der Schweiz und verlangt von der Schweiz, dass diese den EU-Rechtsbestand und dessen Weiterentwicklungen übernimmt. Die Schweiz ihrerseits fürchtet um ihre demokratischen Strukturen, um ihre Souveränität, und Unabhängigkeit. Die Verhandlungen über neue bilaterale Abkommen mit der EU für einen Agrarfreihandel und den Elektrizitätsmarkt stecken in einer Sackgasse.
Alle Varianten geprüft
Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Die Schweiz habe deshalb ein vitales Interesse, den Marktzugang zu den europäischen Ländern zu verbessern, so Leuthard. Die Schweiz leiste aber ihrerseits auch ihren Beitrag. Leuthard nennt den Bau der Neuen Alpentransversale NEAT und die Kohäsionszahlungen für die neuen EU-Länder: «Deshalb dürfen wir mit einem gesunden Selbstbewusstsein auf pragmatische Lösungen zählen.»
Der Bundesrat habe in seiner Klausursitzung zur künftigen Europapolitik der Schweiz «alle Varianten geprüft», so Leuthard. Dabei sei das Gremium «zum Schluss gekommen, dass die Fortführung des bilateralen Weges nach wie vor das beste Instrument ist, um unsere Interessen im europäischen Raum zu verankern».
Gleichzeitig räumt Leuthard ein, dass es aus «Souveränitätsgedanken» nicht die «beste Situation» sei, wenn «unser Land» bei den Verhandlungen mit der EU «das neue Recht» übernehmen müsse.
Landung noch unklar
Genau das verlangt die EU jedoch. Welchen Weg der Bundesrat aus der verfahrenen Situation nehmen will, ist unklar: «Wir können nicht sagen, mit welcher Methodik wir das lösen können und wo wir da landen», sagt Leuthard und gibt die heisse Kartoffel weiter: «Das zu klären, ist der Auftrag an die Arbeitsgruppe, die der Bundesrat gestern formell eingesetzt hat.» Diese müsse abklären, wo die EU «überhaupt Hand biete» und «wo wir als souveränes Land Hand bieten können».
Im Dezember soll die Arbeitsgruppe «erste Lösungsvorschläge» auf den Tisch legen, so Leuthard. Danach werde der Bundesrat entscheiden, welchen Weg er gehen wolle oder ob noch weitere Abklärungen nötig sein würden.
Im Klartext heisst das: Der Bundesrat wird kaum der europakritischen Schweizerischen Volkspartei noch vor den nationalen Wahlen im Oktober 2011 einen Steilpass für den Wahlkampf liefern, also für einen EWR oder gar EU-Beitritt plädieren.
FDP: Position der Stärke
Die Reaktionen fallen trotz der bundesrätlichen Zurückhaltung unterschiedlich aus. Der Bundesrat spreche sich zwar «vordergründig und formell» für die Weiterführung des bilateralen Weges aus, schreibt die «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns): «Sein Gejammer über die ‹Grenzen› der Bilateralen und seine Unterwürfigkeit gegenüber Brüssel zeigen jedoch, dass er bereits kapituliert hat und den EU-Beitritt vollziehen will.»
Die «FDP.Die Liberalen» begrüssen den Entscheid des Bundesrates: «Die Unkenrufe in den vergangenen Wochen, der bilaterale Weg sei am Ende angelangt, sind falsch.», schreibt die Partei. Die Schweiz sei nach der Wirtschaftskrise wieder «stark und stabil aufgestellt» und könne daher «aus einer Position der Stärke mit der EU Verhandlungen über zukünftige bilaterale Abkommen führen».
Andreas Keiser, Bundeshaus, swissinfo.ch
1992: Der EWR-Vertrag wird abgelehnt.
1997: Die Stimmberechtigen lehnen den Vorschlag ab, dass Verhandlungen über einen EU-Beitritt Gegenstand einer nationalen Abstimmung sein müssen.
2000: Die ersten bilateralen Verträge werden in einer Volksabstimmung angenommen. Es geht um Handel, Arbeit und Transport.
2001: Der Vorschlag, sofort Beitritts-Verhandlungen zur EU aufzunehmen, wird abgelehnt.
2005: Die zweiten bilateralen Verträge (Asyl, Steuerausgleich, Schengen-Dublin) werden in einer Volksabstimmung angenommen.
Die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf 10 weitere EU-Länder wird ebenfalls gutgeheissen.
2006: Die Stimmberechtigten sagen ja zu Zahlungen an die Länder der EU-Osterweiterung.
2009: Auch Zahlungen an die neuen EU-Länder Rumänien und Bulgarien werden angenommen.
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