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«Alle meine Freunde vom Gymnasium protestieren mit»

Zeichen des friedlichen Protests: Demonstrierende pflanzen im Gezi-Park in Istanbul Blumen in Form des Peace-Symbols. Keystone

Politologe Can Büyükbay, Politikerin Sibel Arslan, Leyla Gül, Co-Generalsekretärin der SP Schweiz: Sie stammen aus der Türkei und hoffen, dass die Proteste in ihrer Heimat bleibende Veränderungen bewirken. Aber nicht alle Türken in der Schweiz sehen das so.

Das Ringen um die unterschiedlichen weltanschaulichen Entwürfe von Gesellschaft und Politik in ihrem Heimatland, das unter Ministerpräsident Erdogan einen grossen wirtschaftlichen Sprung gemacht hat, hält auch Türkinnen und Türken in der Schweiz in Atem.

Zusammen mit einem knappen Dutzend Kollegen verfolgt Can Büyükbay, künftiger Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaften der Uni Zürich, die Ereignisse wann immer er kann, vor allem via die sozialen Medien Facebook und Twitter.

«Am ersten Tag der Proteste in Istanbul wurde beispielsweise auf Video festgehalten, wie zahllose Verletzte in Moscheen versorgt wurden», berichtet der Doktorand gegenüber swissinfo.ch. Die Informationen sind für ihn absolut glaubwürdig, da sie von Mitgliedern von Menschenrechts-Gruppen verbreitet werden. Ein Ziel der Gruppe ist es, Informationen aus der Türkei an die Medien in der Schweiz weiterzuleiten.

Unter den Demonstranten weiss Büyükbay viele Bekannte. «Von meinen 300 Freunden und Kollegen vom Gymnasium, das ich in Istanbul besuchte hatte, sind alle bei den Protesten dabei», sagt er.

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«Bürgerbewegung könnte für Türkei zum Segen werden»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Nationalrat und Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat ist ein profunder Kenner der Politik und der Gesellschaft in der Türkei. Gross arbeitet seit 12 Jahren eng mit vielen türkischen Parlamentariern zusammen, vor allem auch solchen der Regierungspartei AKP. Er hat in dieser Zeit auch sieben Mal die Türkei besucht, darunter zweimal als Wahlbeobachter. Gross hat die…

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«Grosses Potenzial» 

Der ursprünglich umweltpolitisch und antikapitalistisch motivierte Protest hat sich laut dem Politikwissenschafter zu einer vielfältigen und umfassenden sozialen Bewegung entwickelt, der er «sehr grosses Potenzial» zumisst. Seine Hoffnungen ruhen insbesondere auf einem neu entstandenen akademischen Netzwerk, dem laut Büyükbay fast sämtliche Ärzte, Juristen, Studenten oder Doktoranden angehören.

«Praktisch alle von ihnen sind zu Journalisten geworden, sie sammeln Videos und leiten sie an die internationalen Medien weiter», fährt er fort. Dies sei deshalb sehr wichtig, weil die türkischen Medien anfänglich die Proteste totgeschwiegen hätten.

Er hofft, dass sich aus der sozialen Bewegung eine politische Kraft in Form einer neuen Partei formieren wird. «Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung dürfte zwar die Ausarbeitung eines politischen Programms nicht einfach werden. Aber es braucht eine neue Partei, denn Erdogan hält an seiner sturen Haltung fest», sagt Can Büyükbay.

Um im Istanbuler Gezi-Park Bäume zu schützen, die einem Neubau mit Geschäften weichen sollen, richteten im Mai rund 20 Umweltaktivisten ein Protestcamp ein.

Nachdem die Polizei das Zeltlager der Aktivisten niedergerissen hatte, wuchs der Protest lawinenartig zu einer breiten Bewegung, die auch auf die Hauptstadt Ankara übergriff und mittlerweile praktisch alle Provinzen und Städte des Landes erfasste.

Die Polizei ging mit äusserster Härte gegen die Demonstranten vor.

Laut dem türkischen Ärztebund gab es unter den Demonstranten bisher drei Todesopfer und fast 5000 Verletzte. Auch ein Polizist kam ums Leben.

Am Dienstag kündete Ministerpräsident Erdogan für Mittwoch ein Treffen mit Vertretern der Demonstranten an.

Gleichzeitig liess er in Istanbul die Polizei erneut hart gegen die Protestierenden vorgehen.

Per Zufall in den Gezi-Park 

Der Zufall wollte es, dass Sibel Arslan vor Ort Zeugin des Ausbruchs der Massenproteste wurde. Die Juristin und Vertreterin der Grünen im Basler Kantonsparlament war im Rahmen der Städtepartnerschaft Basel-Van in die Türkei gereist, hatte sich aber erst einige Tage privat in Istanbul aufgehalten. «Da sagten Freunde und Journalisten, ‹komm mit, im Gezi-Park protestieren hunderte von Aktivisten für den Schutz von Bäumen, die gefällt werden sollen'», berichtete sie am Telefon aus der Türkei.

Am frühen Morgen des 31. Mai verliess Arslan Istanbul Richtung Van, wo sie am 1. Juni an der Eröffnung eines Frauenbildungsprojektes teilnahm. Eine halbe Stunde nach der Abreise habe die Polizei ihre schweren Einsätze gegen die Demonstranten gestartet, erzählte sie.

«Es ist die 1990er-Jahre-Generation, junge Leute, die überhaupt nicht einverstanden sind mit dem, was in der Türkei passiert. Sie versuchen auf friedliche Art, sich für mehr Rechte und Freiheiten einzusetzen. Jetzt ist das Erstaunen riesig, dass diese junge Generation keineswegs unpolitisch ist, wie bisher angenommen.»

Noch nie habe es in der Türkei eine so breit abgestützte Protestbewegung gegeben, sagt Arslan. Vereint seien Studierende, Schüler, Musiker, Künstler, Journalisten, Fussballfans, Frauen, die sich für Abtreibung einsetzen, Vertreter von Lesben- und Schwulenorganisationen, Atatürk-Anhänger, Aleviten, Sunniten, Türken und Kurden. «Viele von ihnen waren schon Opfer von Polizeigewalt. Diese hat Gruppen, die zuvor verfeindet waren, zusammengeschweisst», beschreibt sie ihre Beobachtungen.

Als weiteren Faktor nennt sie eine verbreitete Enttäuschung. «Die Türkei befindet sich in einem Friedensprozess mit der PKK. Vieles ist im Fluss, aber die Leute sehen ihre Hoffnungen nicht erfüllt. Sie fühlen sich auf verschiedenen Ebenen nicht mehr ernst genommen und als Bürger diskreditiert.» Dazu mische sich der Staat in die Privatsphäre ein, und Errungenschaften des fortschrittlichen Atatürk-Systems würden zurückgedrängt.

In den vergangenen Tagen haben Türkinnen und Türken in der Schweiz mehrere Solidaritätsaktionen durchgeführt, so in Zürich, Bern, Basel und Genf.

«Überall Taksim, Überall Widerstand» war in Zürich auf einem Transparent zu lesen.

Die Organisationen, die zu den friedlichen Aktionen aufrufen, stammen vorwiegend aus dem linken Lager.

In der Schweiz leben rund 120’000 Personen aus der Türkei, davon sind 40’000 Doppelbürger.

«Hoffnungsvoller Aufbruch»  

Leyla Gül, Co-Generalsekretärin der sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), verfolgt die Ereignisse über Schweizer und deutsche Medien, Facebook und Twitter, aber auch über direkte Kontakte in Istanbul. Am liebsten würde sie gleich selbst hinfahren, um die Geschehnisse vor Ort mitzuerleben, versichert Gül, die in Bern lebt.

«Dieser Protest hat viel mit Aufbruch und Hoffnung zu tun; das ist es, was mich begeistert. Wie stark die Bewegung ist, und vor allem wie ausdauernd, wird sich zeigen.» Gül hofft aber, dass sie zu einer anhaltenden Politisierung der jüngeren Generation führe und dass die Demokratie und die demokratische Beteiligung in der Türkei eine Renaissance erlebten.

«Bisher war es eher so, dass sich eine Elite von Politikern um die Politik kümmerte und der grosse Rest mehr oder weniger unbeteiligt war. Es kann gut sein, dass sich das nun ändern wird. Und es würde der politischen Elite gut tun.»

«Proteste sind falsch» 

Der Riss, der durch die Gesellschaft in der Türkei geht, zeigt sich auch in der Schweizer Diaspora. «Die Proteste sind falsch und gar nicht gut für die Türkei», sagt ein Sprecher der Türkisch-islamischen idealistischen Föderation der Schweiz, die der Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich angehört. Nach der Begründung gefragt, kommt die noch kürzere Antwort: «Es gibt keine Probleme in der Türkei.» Ende des Gesprächs.

Die in dieser Pointiertheit geäusserte Ablehnung ist aber die Ausnahme. «Wir mischen uns nicht in die Politik in der Türkei ein», heisst es bei der Islamischen Kulturstiftung Basel. Keine Stellungnahme war auch von der Türkischen Gemeinschaft Schweiz zu erhalten, einer Dachorganisation der meisten türkischen Vereine und der Föderationen in der Schweiz.

Ein türkischstämmiger Lokalpolitiker aus dem bürgerlichen Lager hat zwar seine Meinung über die Demonstrationen in seiner Heimat, will diese aber nicht öffentlich äussern. Er könne es sich selbstständig Erwerbender nicht leisten, in der Türkei für eine Woche ins Gefängnis zu kommen, sagte er entschuldigend.

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