«Angela Merkel ist ein liebenswerter Mensch»
Bei ihrem eintägigen offiziellen Besuch in der Schweiz ist Angela Merkel am Donnerstag auch an der Universität Bern aufgetreten. Dort nahm sie die Ehrendoktorwürde entgegen, die ihr 2009 verliehen worden war. In ihrer Dankesrede wie auch in der Diskussion mit Studierenden zur europäischen Krise in der Asylpolitik und in Griechenland punktete sie mit klaren und unmissverständlich menschlichen Voten.
Angela Merkel an der Universität Bern: Ein Höhepunkt nicht nur in der Geschichte der Hochschule, sondern auch für viele der über 300 Personen im Auditorium Maximum – in der Mehrzahl Studierende, aber auch Professorinnen, Professoren und Medienvertreter.
Sie erleben die deutsche Bundeskanzlerin, von manchen als mächtigste Frau der Welt apostrophiert, innerhalb des rund einstündigen Auftritts in vier Rollen: Etwas einsam zuerst, auf dem Podium im weichen Corbusier-Sessel versinkend, der Laudatio von Rektor Martin Täuber lauschend.
Etwas verunsichert sodann von der Schweizer Präzision, als sie vom weiblichen Weibel zur genau markierten Position auf dem Parkettboden des Podiums komplimentiert wird, wo sie vom Rektor die Urkunde über die Ehrendoktorwürde entgegen zu nehmen hat. Die Verunsicherung scheint aber nicht einseitig zu sein, kann doch Täuber während des ganzen Anlasses eine gewisse Nervosität nicht ganz ablegen.
Ganz World Leader sodann, als Merkel in ihrer kurzen, aber politisch sehr konkreten Dankesrede den Finger auf die drängenden politischen Themen, sprich Krisen legt, die Deutschland, Europa insgesamt, die Schweiz und andere Teile der Welt aktuell herausfordern: das drastisch angestiegene Flüchtlingsaufkommen, die Verschuldung Griechenlands und der blutige Konflikt in der Ukraine.
Viertens schlussendlich Angela Merkel, die Authentische: Entspannt und souverän sitzt sie jetzt im schwarzen Ledersessel. Die Fragen aus dem Publikum, gerade auch kritische, beantwortet sie fundiert, klug, eindeutig. Und stets von der Warte der Menschlichkeit aus.
Sattelfest bis zum griechischen Milchpulver
Ob die EU ihr Sparprogramm für Griechenland auch fortführen werde, wenn Tsipras die Neuwahlen gewinne, fragt ein Student. «Egal wie die Wahlen ausgehen, ich sehe eine vernünftige Chance, dass das dritte Programm umgesetzt wird», antwortet sie.
Es liegt Merkel aber am Herzen zu betonen, das Programm sei «sehr viel umfangreicher als nur auf Sparziele ausgerichtet». Sie nennt etwa Instrumente zur Steuereintreibung und Regelungen für den Bankensektor, aber auch die interne Öffnung von Produktemärkten. Milchpulver etwa hätten die Menschen in Griechenland bisher nur in Apotheken kaufen können.
«Wann kommt das Thema Flüchtlinge auf die Agenda der EU?», fragt ein zweiter Studierender. «Das Problem muss im Geiste solidarischer Werte gelöst werden», sagt sie und verweist auf die Genfer Flüchtlingskonvention. «Die Länder müssen ein neues System gemeinsamer Asylpolitik finden», schiebt sie nach.
«Glück, dass Menschen mit Deutschland Hoffnung verbinden»
«Angesichts von 800’000 Flüchtlingen, die Deutschland aufnehmen will, blüht Fremdenhass auf. Sind Sie besorgt über die Eskalationen, und welche Wege sehen sie, Fremdenhass zu bekämpfen?», lautet die nächste Frage. Es müsse mit aller Härte gesagt werden, dass bezüglich Fremdenhass Nulltoleranz herrsche, wiederholt Merkel ihre klare Position, die sie Anfang Woche schon vor den deutschen Medien geäussert hat.
«Es gibt Grundprinzipien im Umgang mit Menschen. Auch Bewerber, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, haben das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung», hält Merkel fest. «Wir können und werden das schaffen. Denn wir haben das Glück, dass Deutschland heute ein Land ist, mit dem Menschen Hoffnung verbinden. Als ich 30 Jahre alt war, war das noch nicht so.»
Schon bittet Rektor Täuber um eine letzte Frage. «Diesmal von einer Frau, denn bisher haben nur Männer Fragen gestellt», meldet sich Angela Merkel. Während Sekunden lässt der etwas überraschte Rektor seinen Blick über die Köpfe im Saal schweifen, wo Stille herrscht. «Wenn sich keine Frau meldet, nehme ich selbstverständlich auch einen Mann», sagt Merkel. Der Saal quittiert es mit lautem Gelächter.
Tatsächlich: Ihr Wunsch geht in Erfüllung. «Wie wollen Sie die europäische Kultur vor dem Islam schützen?», fragt eine Frau. «Sie haben politische Verantwortung in der Flüchtlingsfrage. Aber Sie haben auch die Verantwortung, Europa zu schützen, denn es herrscht verbreitet grosse Angst vor dem Islam und Islamismus», so die Fragestellerin.
Nüchtern, methodisch, mit klarer Bestimmtheit kommt die Replik. Erstens trage die EU selbst zum Phänomen des Islamismus bei, nämlich mit einer Vielzahl von Kämpfern in den Reihen der Islamisten. Zweitens sei Angst noch nie ein guter Ratgeber gewesen. «Drittens kann es angesichts von rund vier Millionen Muslimen keinen Streit darüber geben, ob der Islam zu Deutschland gehört.» Punkt.
Vorbild für Europa
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Donnerstag bei ihrem eintägigen Besuch in Bern die Schweizer Asylpolitik gelobt. Sie sah diese gar als Inspiration für ein europäisches Modell.
Wer aber auf Rückendeckung aus Berlin bei einer möglichen Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit der Schweiz mit der EU hoffte, blieb jedoch enttäuscht.
Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 sucht die Schweizer Regierung vor allem unter den Nachbarstaaten nach Partnern, um die bilateralen Gespräche mit Brüssel in Gang zu bringen.
Dennoch bezeichnete Merkel die Beziehungen der beiden Nachbarländer als «geschwisterlich, ja schwesterlich».
Wir haben alle Chancen, uns zu unserem Glauben zu bekennen und den Mut aufzubringen zu sagen, dass wir Christen sind», setzt sie zum Schlussplädoyer an. «Die Debatte kann uns stärken, uns mit den eigenen christlichen Wurzeln auseinander zu setzen. Fragen wir in den deutschen Schulzimmern, was Pfingsten sei, kommt da nicht gerade sehr viel!» Es sei an der Zeit, dass vom Hochmut herunter komme, wer lauthals den Islam kritisiere und als Gefahr darstelle.
Der Applaus, den Merkel für ihre Schlussworte und den Auftritt erhält, fällt laut und lange an.
Studierende eingenommen
«Ich nehme einen positiven Eindruck mit nach Hause. Besonders gefallen hat mir ihr Abschluss-Statement», sagt Andreas Wiedemann, der in Bern Medizin im vierten Jahr studiert. «Sie wirkte von Beginn weg relativ sympathisch», so der 23-jährige Münchner. Im Gegensatz zum Fernsehen, wo sie «weit weg und hoch oben» wirke. «Es war auch ganz schön zu sehen, dass sie auch mal Witze macht und ganz normal ist.»
Nicht ganz überzeugt hat ihn Merkel in der Frage nach einem Fahrplan in der Flüchtlingsproblematik. «Hier hat sie in meinen Augen etwas geschwafelt», sagt Wiedemann.
«Sehr beeindruckend», lautet der Kommentar von Nora Sommer, die ebenfalls Medizin studiert. «Sympathisch fand ich insbesondere, wie sie ihre Meinung sehr klar und sehr persönlich geäussert hat, gerade zu den Themen Islam und Asylsuchende.» Merkel hat der 22-Jährigen den Eindruck vermittelt, «dass ihr das Thema sehr am Herzen liegt und dass sie etwas machen will».
Auch in einem anderen Punkt hält Nora Sommer Merkel für glaubwürdig. «Ich denke, dass ihr die guten Beziehungen zur Schweiz ein echtes Anliegen sind. Ich hatte auch den Eindruck, dass ihr der Besuch hier sehr gefallen hat. Wie gut das dann umsetzbar ist, steht in den Sternen. Ich hoffe, dass sie sich auch in Zukunft für die Schweiz einsetzen wird.»
«Sehr überzeugend, sehr authentisch, sehr glaubwürdig, und trotzdem reflektiert»: Dies das Fazit von Betriebswirtschafts-Student Alwin Schmid. «Was Europa betrifft, bin ich mit ihr grösstenteils einverstanden. Es ist wichtig, dass Europa in dieser schwierigen Situation solidarisch ist», so der 23-jährige Schmid. «Es ist auch wichtig, dass Europa menschlich handelt, gerade in der Flüchtlingsproblematik».
Der Faktor Menschlichkeit
Auch bei Kaltrina Bejta war Merkel vom ersten Augenblick an gut angekommen. «Sie versucht ihr Bestes und will Lösungen möglichst schnell umsetzen. Deshalb auch ihre Forderung nach Flexibilität anstelle von deutscher Gründlichkeit.» Besonders beeindruckt zeigt sich die 20-jährige Studentin der Betriebswissenschaften von der Art und Weise, wie sie über die Flüchtlinge gesprochen habe. «Das war sehr menschlich, ich finde, sie ist ein liebenswerter Mensch.»
Bei Merkels Wunsch nach einer Frage einer Frau habe sie sich etwas ertappt gefühlt, sagt Bejta. «Für mich war es dann etwas zu kurzfristig. Aber ich fand es super, dass sie dies gemacht hat, denn mir war nicht aufgefallen, dass nur Männer Fragen gestellt hatten. Die Frage der Frau war ja dann auch etwas provokativ. Mit der Frage der Religion kamen dann auch Emotionen ins Spiel, bis dahin dominierten eher sachpolitische Themen», sagt Bejta.
Für Simon Müller, der sich als eher links orientiert einstuft, verkörpert Merkel «zu sehr politische Mitte.» Was das von Deutschland geprägte Griechenland-Programm der EU angehe, sei er etwa im Punkt der Privatisierungen nicht einverstanden. «Diese zwingen den griechischen Staat zum Verscherbeln seiner Immobilien, wodurch aber nur ein minimaler Effekt erzielt wird.» Im Punkt der Menschlichkeit aber hat der hohe Gast auch Müller eingenommen: «Ihre Haltung entspricht mir völlig», räumt Müller ein.
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