«Angela Merkel ist nicht Osama bin Laden»
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel soll vom US-Geheimdienst, der National Security Agency, abgehört worden sein. Die Schweizer Zeitungen sind der Meinung, die Spionage-Aktivitäten schössen über ihr Ziel hinaus. Zudem seien die europäischen Staatchefs zu naiv gewesen.
«Angela Merkel ist nicht Osama bin Laden», «Keine Freunde, nur Interessen», «Vertrauen im Zwielicht», «Schwere Störung der Atlantik-Verbindung», «Berlin in Aufruhr», «Big Brother ist furchterregend geworden», «Schlimmer als ein Verbrechen», titeln am Freitag die Schweizer Zeitungen. Und natürlich – es liegt auf der Hand – mehrere Blätter: «Der Freund hört mit».
«Angela Merkel gilt als enthusiastische Nutzerin des kleinen mobilen Geräts», schreiben Tages-Anzeiger und Der Bund. «Sie wird nicht umsonst auch Handykanzlerin genannt. Der Spitzname hat ab sofort einen bitteren Klang.»
Denn es sei davon auszugehen, dass ihre amerikanischen Freunde mitgelesen uns mitgehört hätten, wann sie mit ihrem Mobiltelefon kommunizierte. «Für die Frau aus dem Osten muss die Erkenntnis besonders erschütternd sein. Schon in der DDR hörte immer jemand mit.»
Nun räche sich, dass Merkels Regierung noch im Sommer die US-Überwachung heruntergespielt habe. «Erst jetzt, da es um ihr Diensthandy geht, findet Angela Merkel klare Worte.»
Dies führe nun dazu, dass den transatlantischen Beziehungen Schaden drohe. «Dabei brauchen sich Amerikaner und Europäer in einer unsicheren Welt mehr denn je. Auf Chinesen oder Russen wird man sich nicht verlassen können, wenn es darum geht, die Werte einer freien und demokratischen Gesellschaft zu verteidigen», so Tagi und Bund.
Die USA müssten nun zugeben, dass ihre Geheimdienste ausser Kontrolle geraten seien und dass man ein befreundetes demokratisches Land nicht ausspioniere. Die Europäer schliesslich sollten sich nicht mit Empörung begnügen.
«Schliesslich haben ihre Geheimdienste mit den Amerikanern allzu oft gemeinsame Sache gemacht. Ganz offensichtlich war dies aber keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.»
Der Kommentator fordert daher ein Mindestmass an Spielregeln und demokratischer Kontrolle für die digitalen Schlapphüte. Und er verlangt etwas weniger Naivität von Europas Staatschefs: «Was sagt es über die eigene Spionageabwehr, wenn die Regierungschefin offenbar unbemerkt über längere Zeit abgehört werden kann?»
«Merkel ist keine Terroristin»
US-Präsident Barack Obama spiele bei den Enthüllungen der Schnüffeleien seiner Spionagedienste gerne den Verständnisvollen, schreibt Die Südostschweiz. Er räsoniere über die richtige Balance zwischen Sicherheit und Privatsphäre, als ob er mit dem Treiben seiner Spione nichts zu tun hätte.
«Herr Präsident, mit Verlaub, das ist hier nicht die Alternative! Angela Merkel ist nicht Osama bin Laden, Europäer sind keine Terroristen, und Diplomaten bereiten Gespräche, keine Anschläge vor.»
Die nüchterne Erkenntnis aus den Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden laute schlicht und einfach: «Die National Security Agency kennt keine Freunde, nur Ziele. Die deutsche Bundeskanzlerin war eines davon. Die US-Spione spitzeln hemmungslos Verbündete aus, weil sich daraus Vorteile ziehen lassen. Dass dabei die Privatsphäre von Millionen Bürgern und Firmen verletzt wird, gehört zum Geschäft.»
Dies könnte aus zwei Gründen geschehen sein. Entweder habe der NSA auf eigene Faust gehandelt und der Präsident habe seinen Apparat nicht im Griff. Oder «die Cyber-Armee marschiert auf seinen Befehl. Dann erwiese er sich als skrupelloser Führer einer Supermacht, die kalkuliert Interessen durchsetzen will. Dafür spricht vieles». Nun sei es an seinen Freunden, mit Nachdruck darauf zu bestehen, «als solche behandelt zu werden».
Auch wenn man verstehen könne, dass Washington wachsam die Bewegungen von verdächtigen Individuen und Staaten beobachte», schreibt Le Quotidien Jurassien, «ist es schockierend und illoyal, dass Alliierte wie die deutsche Kanzlerin Merkel und andere europäische Regierungschefs, ins Netz der US-Geheimdienste geraten sind».
Die neuen Technologien «haben Big Brother furchterregend gemacht. Vom Beschützer der Menschen, der sie sein sollten, gefährden die US-Geheimdienste ihre Freiheiten».
«Einen Fehler gemacht»
«Wenn latenter Antiamerikanismus und die tiefsitzende deutsche Abneigung gegen Nachrichtendienste gerührt und geschüttelt werden, entsteht ein hochgiftiger Empörungscocktail», schreibt die Neue Zürcher Zeitung.
«Die Kanzlerin neigt im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute nicht zu hypermoralischen Betroffenheits-Orgien.» Wenn sie daher mit einem Anliegen die Öffentlichkeit suche, habe sie «einen triftigen Anhaltspunkt».
«Treffen die Anschuldigungen zu, muss sich die amerikanische Regierung das Bonmot von Napoleons Polizeichef Fouché vorhalten lassen, etwas Schlimmeres als ein Verbrechen begangen zu haben, nämlich einen Fehler.»
Auch wenn Nachrichtendienste in einer multipolaren Welt voller Terroristen, Rebellen und aufstrebender Nationen wichtig seien, rechtfertige dies nicht jeden Fehltritt, so die NZZ. «Auch in der Welt der Schlapphüte ist alles eine Frage des Augenmasses. Gezielt die Regierungschefin eines engen Partnerlandes abzuhören, schickt sich nicht.»
Da sich aber die transatlantischen Partner einander weiterhin nötig hätten, sei ein zu grosser europäischer Ärger aber auch nicht angebracht, da Europa auf den US-Schutzschirm angewiesen sei. «Washington muss sich allerdings auch daran erinnern, dass schier unbegrenzte Rechnerkapazitäten und moderne Spionage-Software politische Klugheit und Fingerspitzengefühl nicht ersetzen können.»
«Vertrauen erschüttert»
Auch die Aargauer Zeitung stellt die Frage, «Springt man so mit dem Partner um?». Nun habe es ausgerechnet jene Spitzenpolitikerin getroffen, die im Sommer noch die Praktiken der US-Geheimdienste heruntergespielt habe.
Zwar gebe es noch keine Beweise, doch die Indizien des Bundesnachrichtendienstes dürften stark sein. «Andernfalls hätte Merkel nicht zum – hoffentlich abhörsicheren – Telefon gegriffen und Barack Obama angerufen.» Durch die Affäre sei das Vertrauen zwischen Berlin und Washington erschüttert.
«Realpolitik steht für Obama an erster Stelle. Deshalb gilt auch für seine Politik das Wort des britischen Premierministers Palmerston: Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen.»
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