Macron holt seine Renten-Ideen bei einem Schweizer
Der Forscher Antoine Bozio verteidigt die Idee eines Rentensystems nach Punkten. Diese hat auch der neue französische Präsident Emmanuel Macron aufgegriffen. Die Arbeit des Spezialisten für staatliche Politik, der ursprünglich aus Genf stammt, erhält in Frankreich immer grössere Beachtung.
Wir treffen ihn in seinem Büro des brandneuen Campus der Paris School of Economics, im Süden der Stadt. Die Sonne scheint auf den grossen Garten, in dem einige Studierende am Lesen sind. Antoine Bozio lächelt. Seine Arbeit wurde mit dem Preis für den besten jungen Ökonomen 2017 ausgezeichnet. Ein Preis, der in Frankreich zu viel Sichtbarkeit führt.
«Dass man die Zunahme der Lebenserwartung in Betracht zieht, sichert das finanzielle Gleichgewicht langfristig und verhindert andauernde Reformen.»
Antoine Bozio, Ökonom
Wenn man mit dem Direktor des «Institut des politiques publiques» (Institut für staatliche Politik, IPP) spricht, geht es oft auch um seine Vorliebe, die Reform des Rentensystems. Diesem Thema hat er seine Dissertation gewidmet, unter der Leitung des Starökonomen Thomas Piketty. Zudem hat er gemeinsam mit seinem Mentor ein Buch geschrieben.
Heute ist es Emmanuel Macron, der sich auf seine Ideen stützt. «Seine Berater statteten mir zu Beginn seiner Kampagne einen Besuch ab», erinnert sich der in Genf geborene Franko-Schweizer. «Später durfte ich meine Vorschläge Macron selber präsentieren.»
Um was geht es bei dieser Reform? «Das französische Rentensystem hat mehrere Probleme: Die höhere Lebenserwartung stellt die finanzielle Stabilität in Frage. Das System ist sehr zerstückelt, mit einer Vielzahl von betrieblichen Systemen, was zu Ungerechtigkeiten führt. Und viele Bürgerinnen und Bürgern verstehen es nicht und haben das Gefühl, sie bezahlten in ein Loch.»
Bozios Reformvorschlag ist durch das schwedische Modell einer Rente nach Punkten oder mit «virtuellen Konten» inspiriert. In groben Zügen dargestellt, verfügt jede versicherte Person über ein Konto, in dem die Anzahl der geleisteten Beiträge notiert wird. Mit jedem einbezahlten Euro erhöht sich die künftige Rente. Die Summe der Beiträge wird regelmässig dem Lohnwachstum angepasst.
Zum Zeitpunkt, an dem jemand in Pension geht, bestimmt die durchschnittliche Lebenserwartung für die Generation der betroffenen Person den Betrag der Rente. «Das erlaubt folgende Aussage: Sie werden 32 Jahre in Rente verbringen, also können wir Ihnen den folgenden Betrag garantieren», erklärt Bozio. «Die Tatsache, dass man die Zunahme der Lebenserwartung in Betracht zieht, sichert das finanzielle Gleichgewicht langfristig und verhindert andauernde Reformen.»
Reformieren, aber nicht zu schnell…
Doch weshalb interessiert sich der Ökonom derart für Rentensysteme, ein Thema, an dem er bereits seit 2004 forscht? «Die Rentenausgaben in Frankreich sind immens. Sie machen 14 Prozent des Bruttoinland-Produkts aus, im Vergleich zu sechs in Grossbritannien und zehn in Deutschland. Eine Verbesserung der Effizienz des Systems, und sei sie auch noch so klein, hätte deshalb schon eine enorme Wirkung», sagt Bozio.
Die Regierung Macron will 2018 über das neue Gesetz abstimmen lassen. «Das erscheint mir etwas schnell für eine solche Strukturreform. Ich plädiere dafür, dass man sich ein wenig Zeit dafür lässt. Vielleicht ist das meine Schweizer Seite…», sagt Bozio schmunzelnd.
Der Dreissiger zögert nie, seine Schweizer Seite zu erwähnen. Auch wenn er in Frankreich aufgewachsen ist und studiert hat, führt er seine doppelte Nationalität in seinem Lebenslauf auf. Bozio spricht Deutsch und Italienisch, liest Schweizer Zeitungen, nimmt gewissenhaft an Abstimmungen teil und zeigt sich sehr angetan von der direkten Demokratie. Er liebt auch die Berge, Skifahren im Eifischtal und erzählt seinem dreieinhalbjährigen Sohn gerne die Geschichte der Escalade, des Siegs der Genfer über die Savoyer.
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Seine Rolle als Forscher sieht Bozio auch als Dienst an der demokratischen Debatte. Er machte die Untersuchung der staatlichen Politik zu seinem Spezialgebiet. «Ihre Auswirkungen zu verstehen, hat mich schon immer interessiert. Man kann sie nicht einfach nur aufgrund seines Weltbildes beurteilen. Bevor man zum Beispiel für oder gegen ein Mindesteinkommen ist, muss man wissen, ob ein solches zu Arbeitslosigkeit führt oder nicht. Die Idee ist nicht, eine Diskussion zu unterdrücken, sondern dieser einen Rahmen zu geben», betont er.
«Man kann sich nicht einfach nur aufgrund seines Weltbildes eine Meinung bilden. Bevor man etwa für oder gegen ein Mindesteinkommen ist, muss man wissen, ob ein solches zu Arbeitslosigkeit führt oder nicht.»
Antoine Bozio, Ökonom
Nach seinem Doktorat arbeitete der Ökonom während fünf Jahren am «Institute for Fiscal Studies» (IFS) in London, das auf solche Untersuchungen spezialisiert ist. «Ich war beeindruckt, wie viel Einfluss jede ihrer Publikationen hatte, die ganz genau unter die Lupe genommen und überall weiterverbreitet wurden.» Eine Vorgehensweise, die weit weg von der Kultur der französischen Politik ist.
Doch die Idee macht in Frankreich ihren Weg. Langsam sei im Land ein Bewusstsein entstanden angesichts der Notwendigkeit, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, sagt Bozio. 2011 macht er bei der Gründung des IPP in Paris mit, einem «Interface» zwischen Forschung und Politik.
«Vor fünf Jahren war ich noch der einzige Angestellte. Heute arbeiten am IPP 17 Forschende und etwa vierzig angegliederte Forscher», freut er sich. Das Institut wurde namentlich bei den Themen staatliches Wohngeld (allocations logement) und Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Schulen angefragt.
Weniger staatliche Ausgaben
Wir haben nur noch wenig Zeit, bis sich Bozio wieder seiner Arbeit widmen muss. Es reicht noch, um ein weiteres Forschungsprojekt anzusprechen, an dem er zusammen mit dem Londoner IFS arbeitet.
Es geht dabei um die Auswirkungen der Besteuerung auf die Arbeit. In den USA ist die mittlere Arbeitszeit pro Person viel höher als in grossen europäischen Ländern wie Frankreich, Grossbritannien und Deutschland. In einer provokativen Arbeit hat Nobelpreisträger Edward Prescott geschrieben, diese Unterschiede liessen sich durch den Steuersatz erklären.
«Das spielt sicher eine Rolle, wenn man aber die Auswirkungen genau analysiert, ist es nicht so einfach», sagt Bozio. «Die Schwierigkeit besteht darin, eine langfristige Einschätzung und einen internationalen Vergleich durchzuführen.» Ein riesiges Unterfangen, von dessen Ende Bozio und seine Mitforschenden noch meilenweit entfernt sind.
KurzbiografieAntoine Bozio
1978 in Genf geboren. Beide Eltern sind Ärzte.
1983 Umzug nach Lyon, Frankreich.
1999 Eintritt in die Elite-Universität «Ecole normale supérieure», eine der prestigeträchtigsten und selektivsten in Frankreich.
2006 Doktorat in Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule für Sozialwissenschaft unter der Leitung von Thomas Piketty. Seine Dissertation wird mit dem Preis der französischen Assoziation für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.
2011 gründet er das Institut für staatliche Politik (IPP) in Paris mit.
2017 erhält er den Preis für den besten jungen Ökonomen in Frankreich.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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