Grenzgänger machen Schweizer nicht arbeitslos
Grenzgänger sind keine Konkurrenz für die schweizerischen Arbeitskräfte. Im Gegenteil, sie könnten sich vorteilhaft auf den schweizerischen Arbeitsmarkt auswirken. Dies die These von Sylvain Weber, Mitautor einer Studie.
Breite Studie über Grenzgänger
«Arbeit der Grenzgänger und Arbeitsmarktprobleme: Der Schweizer Fall» ist eine Studie von Sylvain WeberExterner Link, Forscher an der Universität Neuenburg, José V. RamirezExterner Link, Professor an Haute école de gestion in Genf (HEG) und Giovanni Ferro-LuzziExterner Link, Professor an der Universität Genf. Sie wurde im Rahmen einer breiten StudieExterner Link über Grenzgänger in Luxemburg und der Schweiz publiziert.
Unter der Leitung von Isabelle Pigeron und Christian Wille, Mitglieder des UniGR-CenterExterner Link for Border Studies der Universität Luxemburg, haben rund zwanzig Autoren versucht, die wichtigsten Punkte der Arbeit von Grenzgängern in Europa (Luxemburg, Genf, Basel, etc.) zu vergleichen. Zur Erinnerung: Die Schweiz (315’000) und Luxemburg (192’000) sind die beiden Länder mit der höchsten Zahl von Grenzgängern in Europa.
Rund 315’000 Grenzgänger pendeln täglich zwischen ihrem französischen, deutschen, italienischen oder österreichischen Zuhause an ihren Arbeitsplatz in der Schweiz.
Das sind 6% der gesamten Erwerbstätigen in der Schweiz. In den Grenzkantonen Genf, Basel-Stadt und Tessin liegt die Quote bei über 30%.
Die grosse Zahl gibt oft Anlass zu Kritik oder sogar Ressentiments. Dabei gebe es wenig negative Auswirkungen auf den lokalen Arbeitsmarkt, wie Sylvain Weber zusammen mit zwei weiteren Schweizer Ökonomen in einer Studie zeigt. Die Resultate liegen swissinfo.ch exklusiv vor.
swissinfo.ch: Der Zusammenhang zwischen Grenzgängern und der Arbeitslosenquote in der Schweiz ist seit langem Gegenstand heftiger Diskussionen. Bringt Ihre Studie nun Klärung in dieses Spannungsfeld?
Sylvain Weber: Nein, das ist nicht unser Anspruch. Wir haben versucht, auf der Grundlage der für die gesamte Schweiz in den letzten zwanzig Jahren verfügbaren Daten so umfassend wie möglich zu sein, während frühere Studien oft nur eine bestimmte Region über einen kürzeren Zeitraum betrafen.
Unsere Forschung bestätigt jedoch andere Analysen zum gleichen Thema: Einer Zunahme von Grenzgängern folgt kein Anstieg der Arbeitslosenquote unter Inländern. Unabhängig von der angewandten Methode kommt man immer wieder zum ähnlichen Ergebnis: Grenzgänger treiben Schweizer Bürger nicht in die Arbeitslosigkeit.
swissinfo.ch: Ihre Schlussfolgerungen sind in der Tat eindeutig. Sie gehen sogar davon aus, dass grenzüberschreitende Arbeit positive Auswirkungen auf den lokalen Arbeitsmarkt haben könnte. Wie muss man dieses scheinbare Paradoxon verstehen?
S.W.: Dies mag zwar für Teile der Öffentlichkeit kontra-intuitiv erscheinen, ist aber aus rein wirtschaftlicher Sicht wenig überraschend. Ein Unternehmen ist bestrebt, qualifiziertes Personal dort einzustellen, wo es niedergelassen ist. Wenn es die gesuchten Profile nicht findet, kann es gezwungen sein, einen Teil der Aktivitäten auszulagern. Dank der Grenzarbeiter kann das Unternehmen die Aktivitäten vor Ort behalten, was auch den lokalen Arbeitskräften zugutekommt.
Grenzgänger und lokale Arbeitskräfte ergänzen sich mit ihren Tätigkeiten in der Regel. Wir können nicht einfach Grenzgänger durch lokale Arbeitslose ersetzen, diese Argumentation ist verkürzt.
swissinfo.ch: Wie lässt sich dann die besonders hohe Arbeitslosigkeit in den Kantonen Genf, Neuenburg oder Jura erklären, in denen viele Grenzgänger arbeiten?
S.W.: Wir haben unsere Analysen mit Daten auf kantonaler Ebene wiederholt. Auch hier haben wir keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und der Zahl der Grenzgänger gefunden.
Die Erklärung liegt eher in der Struktur des Arbeitsmarktes. In der Deutschschweiz ist die Berufslehre viel stärker verbreitet als in der Westschweiz, wo man wie in Frankreich eher auf die akademische Ausbildung setzt. Junge Menschen finden jedoch viel schneller eine Arbeit, wenn sie eine Berufslehre abgeschlossen haben, was sich auf die Gesamtarbeitslosenquote auswirkt.
Der andere Faktor ist die Kultur: Die Wahrnehmung des Arbeitsmarktes ist in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz unterschiedlich. So scheinen Deutschschweizer sich seltener bei Arbeitslosenämtern zu melden als Westschweizer. Die offizielle Arbeitslosenquote spiegelt somit nicht die tatsächliche Arbeitslosenquote wider. Je nach Region des Landes gibt es mehr oder weniger grosse Unterschiede zwischen diesen beiden Quoten.
swissinfo.ch: Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass Grenzgänger den Schweizer Arbeitsmarkt kompetitiver machen. Ihre Schlussfolgerungen werden einen 55-jährigen Arbeitslosen, der in Genf oder einer anderen Grenzregion ausgesteuert wird, kaum trösten…
S.W.: Automatisierung, technologischer Wandel und wirtschaftliche Globalisierung haben den Arbeitsmarkt tatsächlich kompetitiver gemacht. Diese Veränderungen machen Angst, die reflexartig dazu führt, die Schuld bei anderen zu suchen.
Aber das hat nichts mit Grenzgängern zu tun. Wir können Arbeitslosen in der Schweiz nicht zu Arbeit verhelfen, indem wir Grenzgänger ausweisen. Die einzige Lösung ist die ständige Weiterbildung. Das Profil der in der Schweiz wohnhaften Arbeitslosen muss an die Erwartungen der Arbeitgeber angepasst werden. Dies ist eine der Aufgaben der Arbeitsvermittlungszentren.
swissinfo.ch: Soll sich die Schweiz also über so viele Grenzgänger freuen?
S.W.: Grenzgänger sind in der Tat ein Glücksfall für das Gastland. Sie generieren Wertschöpfung und tragen zum BIP-Wachstum bei, wenn es der Wirtschaft gut geht. Und sobald sich die Konjunktur umdreht, fungieren sie als Puffer, weil wir sie nach Hause schicken, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren.
Sie erscheinen daher nicht in der Schweizer Arbeitslosenstatistik. Darüber hinaus werden ihre Arbeitslosengelder bisher weitgehend vom Wohnsitzland bezahlt, obwohl sie an ihrem Arbeitsort Beiträge an die Arbeitslosenkasse geleistet haben. All diese Aspekte sind für die Schweiz von Vorteil!
Kontaktieren Sie den Autor dieses Artikels auf Twitter: @samueljabergExterner Link
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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