«Wir sind in gewisser Weise ihre Anwälte, ohne es wirklich zu sein»
Am 5. Juni wird über das revidierte Asylgesetz abgestimmt. Dieses sieht unter anderem vor, dass jeder Asylsuchende ab Verfahrensbeginn einen kostenlosen Rechtsbeistand erhält. Diese Funktion wird bisher teilweise von Vertretern von Menschenrechtsorganisationen wahrgenommen. Theodore Adote vom Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) erklärt die Bedeutung und Grenzen dieser Arbeit.
swissinfo.ch: Sie sind als Beobachter bei der Befragung von Asylbewerbern in Bern dabei. Um welche Fälle handelt es sich?
Theodore Adote: Zurzeit werden rund 60 Prozent der Asylgesuche in den sechs Empfangs- und Verfahrenszentren an der Grenze und in den Flughäfen behandelt. Dort erfolgt eine ganz allgemeine Befragung zu den Personalien und Fluchtgründen. Vor allem Dublin-Fälle werden dabei ausgesiebt, das heisst Fälle von Migranten, die in einem anderen europäischen Land bereits ein Asylgesuch gestellt habe. Die Befragungen in Bern gehen tiefer. Die Beweggründe für die Flucht werden genauer untersucht. Und für die ausführliche Anhörung, wie dieser Schritt offiziell heisst, verlangt das Gesetz auch die Präsenz eines unabhängigen Beobachters.
swissinfo.ch: Wie laufen diese Anhörungen ab?
T.A.: Der Asylsuchende wird von einem Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM) befragt. Anwesend sind ebenfalls ein Übersetzer, ein Protokollführer sowie ein Beobachter von einer Menschenrechtsorganisation. Diese Anhörung verfolgt den Zweck, die genauen Beweggründe zu verstehen, die zu einer Flucht in die Schweiz führten. Der SEM-Mitarbeitende stellt die Fragen, um die Motive genau zu verstehen, aber auch mögliche Widersprüche zu erkennen. Eine solche Anhörung kann zwei bis drei Stunden dauern, aber sogar einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.
swissinfo.ch: Welche Rolle spielen dabei die Beobachter von Menschenrechtsorganisation?
T.A.: Wir schauen, dass sich die Asylbewerber frei äussern können und keinerlei Druckversuchen ausgesetzt sind. Wir sind in gewisser Weise ihre Anwälte, ohne es wirklich zu sein. Wir greifen ein, wenn wir den Eindruck haben, dass ein Asylsuchender sehr angespannt oder müde ist oder wir Übersetzungsprobleme erkennen. Und wenn wir der Auffassung sind, dass eine Anhörung nicht korrekt war, können wir dem Protokoll einen Bericht beifügen, den der Asylbewerber unterzeichnet. Das Staatssekretariat für Migration oder das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz in Asylfragen können auf Grundlage dieser Anmerkungen eine erneute Anhörung anordnen.
swissinfo.ch: Fühlen sich die Asylbewerber angesichts der grossen Bedeutung dieser Anhörungen nicht automatisch unter Druck?
T.A.: Tatsächlich stehen sie häufig unter sehr grossem Druck. Sie wissen, dass ihr Schicksal sich innerhalb von wenigen Stunden ändern kann. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wirklich versucht wird, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Das ist sogar im Rahmen des Verfahrens obligatorisch. Der Beamte vom Staatssekretariat für Migration muss eine Vertrauensbeziehung mit einem Gesuchsteller herstellen, damit dieser erzählt, was er erlebt hat – und dies ohne jeglichen Druck.
swissinfo.ch: Inwiefern kann bei der Anhörung die Tatsache berücksichtigt werden, dass bestimmte Personen Mühe haben könnten, ihre wirkliche Geschichte zu erzählen? Sie könnten etwa aus kulturellen Gründen nicht erwähnen wollen, Opfer von Folter oder Vergewaltigungen geworden zu sein.
Änderung des Asylgesetzes
Am 5. Juni entscheidet das Schweizer Stimmvolk über die Änderung des Asylgesetzes. Mit diesem Gesetz soll das Asylwesen mit beschleunigten und fairen Verfahren grundlegend erneuert werden. In der Regel soll ein Asylverfahren nicht länger als 140 Tage dauern.
Um sicherzustellen, dass die Verfahren trotz kurzer Fristen rechtsstaatlich korrekt und fair durchgeführt werden, erhalten Asylsuchende kostenfrei die nötige Beratung und Rechtsvertretung. Gemäss der Regierung hat ein Testbetrieb in Zürich die Wirksamkeit dieser neuen Verfahren bestätigt. Die Asylsuchenden akzeptieren demnach negative Entscheide leichter. Die Beschwerdequote liege bei den beschleunigten Verfahren deutlich tiefer.
Gegen die vom Parlament gut geheissene Asylgesetzreform hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) das Referendum ergriffen. Ihrer Meinung nach werden sich die Probleme im Asylwesen verschärfen. Die Reform werde die Schweiz als Asylland noch attraktiver machen.
Die Referendumsbefürworter bekämpfen insbesondere die kostenlose Rechtsberatung, weil dies ihrer Meinung nach eine Flut von Beschwerden auslösen und die Gerichte überlasten werde. Die Folgekosten erreichten Millionenhöhe. Asylbewerber würden zudem gegenüber Schweizern bevorteilt, da diese keinen Anspruch auf einen kostenlosen Rechtsschutz hätten.
T.A.: Solchen Faktoren wird Rechnung getragen. Das heisst Faktoren, die an die jeweilige Kultur, bestimmte Lebensumstände oder erlittene Gewalt gebunden sind. Das SEM muss diese berücksichtigen. Wenn es beispielsweise schon bei der ersten Anhörung nach dem Empfang Hinweise auf sexuelle Gewalt gab, denen Asylbewerber in ihrer Heimat ausgesetzt waren, wird vorgeschlagen, die zweite Anhörung einzig in Präsenz von Männern oder Frauen durchzuführen, je nach Fall. Wir versuchen den Personen dann zu erklären, dass wir gewohnt sind, solche Geschichten zu hören. Und wir erklären den Gesuchstellern, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, alles zu erzählen, was sie erlebt haben.
swissinfo.ch: Trotz all dieser Vorsichtsmassnahmen muss es doch sehr schwierig sein, in wenigen Stunden die Wahrheit einer Lebensgeschichte herauszufinden. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, zu Fehlschlüssen zu gelangen?
T.A.: Es gibt Fälle, in denen sofort klar wird, dass die erzählte Geschichte nicht stimmen kann; dass eine Person nicht wirklich das erlebt hat, was sie erzählt. In anderen Fällen sind wir absolut sicher, dass ein Asylbewerber effektiv verfolgt wurde und ein Anrecht auf Asyl hat. Doch es gibt auch eine Grauzone, vielleicht 20 Prozent der in Bern verhandelten Fälle. Da wissen wir nicht, ob die Aussagen einer Person stimmen. Manche Elemente erscheinen glaubwürdig, andere nicht. Am Ende bleibt der Zweifel. Und man möchte nicht in der Haut des Beamten stecken, der eine Entscheidung treffen muss. Solche Zweifel tauchen auch am Bundesverwaltungsgericht auf. Richter haben unterschiedliche Auffassungen. In sehr komplizierten Fällen entscheidet daher ein Kollegialgericht.
swissinfo.ch: Sie hören viele erschütternde und dramatische Lebensgeschichten. Können Sie nach der Arbeit überhaupt abschalten?
T.A.: Es ist tatsächlich keine leichte Arbeit. Und anfänglich hatte ich einige Probleme. Inzwischen habe ich gelernt damit umzugehen, was nicht heissen will, dass ich unsensibel geworden bin. Mit der Zeit wird man sich aber der Tatsache bewusst, dass man die Welt nicht ändern kann. Ich helfe einfach im Rahmen meiner Möglichkeiten. Danach obliegt es anderen, einen Fall in die Hand zu nehmen.
swissinfo.ch: Bedeutet dies, dass Sie nach der Anhörung keinen Kontakt mehr mit den Gesuchstellern haben?
T.A.: Nein. Nach einer Anhörung können sich die Antragsteller im Falle eines ablehnenden Entscheids an die kantonalen Rechtsberatungen wenden, wenn sie Beschwerde erheben möchten. Wir haben keine weiteren Einflussmöglichkeiten mehr auf das Verfahren, weil unter dem geltenden Gesetz unsere Präsenz einzig und allein während dieser Anhörungen vorgesehen ist. Falls das Volk dem revidierten Asylgesetz im Juni zustimmt, wird unsere Funktion erlöschen und durch einen Rechtsvertreter ersetzt werden.
swissinfo.ch: Was halten Sie von dieser Änderung?
T.A.: Ich halte diese Änderung für eine gute Sache. Denn ein Asylbewerber kann so vor, während und nach einer Anhörung von einem Rechtsvertreter begleitet und beraten werden. Es ist ähnlich wie bei einem Anwalt, der seinem Mandanten von der Untersuchungsphase bis zu einem Gerichtsverfahren beistehen kann. Dadurch kann vermieden werden, dass ein Asylbewerber unvorbereitet zu einer Anhörung erscheint. Dabei ist dies noch wichtiger als bisher, weil die Asylverfahren mit dem neuen Gesetz beschleunigt werden sollen.
swissinfo.ch: Sie werden Ihren Job allerdings verlieren, wenn das neue Gesetz angenommen wird.
T.A.: Das ist so. Aber wir sind nicht da, um mit dieser Arbeit Geld zu verdienen. Wichtig ist, dass ein Gesetz in optimaler Weise für alle angewandt werden kann. Zurzeit können sich nur sehr wenige Asylsuchende, die über die nötigen Finanzen verfügen, einen Anwalt leisten. Daher gibt es zwei Klassen von Asylsuchenden, was ich nicht richtig finde.
Die Aussagen in diesem Interview basieren auf den persönlichen Erfahrungen von Theodore Adote während dessen Arbeit als Beobachter, für die das HEKS nicht die Verantwortung übernimmt.
HEKS
HEKS ist das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz. Es wurde 1946 vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) gegründet. HEKS leistet Überlebens- und Nothilfe und bekämpft die Ursachen von Hunger, Ungerechtigkeit und sozialem Elend. Die Hilfe erfolgt unabhängig von der Kultur und Religion der Begünstigten.
Das Hilfswerk betreibt in der Schweiz fünf Regionalstellen und ist im In- und Ausland mit rund 200 Projekten engagiert. In 20 Schwerpunktländern beziehungsweise -regionen ist HEKS mit eigenen Koordinationsbüros präsent.
HEKS arbeitet wann immer möglich mit Partnerorganisationen vor Ort zusammen und sendet nur in Ausnahmefällen Schweizerinnen und Schweizer ins Ausland.
HEKS ist eine von vier Menschenrechtsorganisationen, die der Bund als Partner im Asylwessen anerkannt hat. HEKS-Mitarbeitende nehmen als neutrale Beobachter an den Anhörungen für Asylsuchende teil, um ein faires Verfahren zu garantieren.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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