Sind profitorientierte Firmen mit traumatisierten Kriegsflüchtlingen überfordert?
Ein Syrer mit Kriegstrauma behauptet, dass er in der Schweiz nicht adäquat behandelt worden sei. Sein Fall führt zur Frage, ob ihr Programm zur Aufnahme von verletzlichen Kriegsflüchtlingen systemische Fehler beinhaltet.
Im Jahr 2013 beschloss die Schweizer Regierung die Teilnahme am Resettlement-Programm der UNO für vulnerable Flüchtlinge aus Syrien.
Im Rahmen dieses Programms kam 2015 Khater Obeida in die Schweiz. Er wurde in einem Asylzentrum in Biberist im Kanton Solothurn untergebracht. Es war die Aussenstation einer ehemaligen Strafanstalt, die heute von der privaten Organisation ORS als Asylzentrum geführt wird.
Der 35-jährige Syrer litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Durch den Aufenthalt im Zentrum habe sich seine psychische Situation verschlechtert und am Ende sei er als «gewalttätiger Verrückter» stigmatisiert worden, berichtet Obeida im Gespräch mit swissinfo.ch.
Nach Angaben von Nichtregierungs-Organisationen ist seine Geschichte kein Einzelfall: Sie enthülle Schwächen im Asylsystem in der Schweiz in ihrem Umgang mit vulnerablen Gruppen.
Gruppenzwang statt Ruhe
«Der Ort selbst war eine Ursache für die psychische Verschlechterung meines Zustandes», sagt Obeida. «Der Raum erinnerte mich an meine Haftzeit. Ich aber wollte meine Tage alleine verbringen, ohne mich mit anderen Menschen unterhalten zu müssen».
Doch dieser Wunsch sei nicht berücksichtigt worden. Vielmehr hätten ihn Mitarbeiter des Asylzentrums gebeten, für andere Flüchtlinge zu übersetzen. «Dies führte zu Konflikten. Meinem Sonderfall und meinem Bedürfnis nach Isolation wurden keine Rechnung getragen», sagt Obeida.
Betreiberin lässt Kritik nicht gelten
ORS, die private Betreiberorganisation des Asylzentrums, weist die Vorwürfe zurück. «Dass die Liegenschaft früher als Gefängnisaussenstelle diente, war zu keiner Zeit erkennbar», heisst es in einer Stellungnahme. Das «geräumige Haus» sei vor der Nutzung als Flüchtlingsunterkunft komplett renoviert worden. Neben einer grossen Küche mit einem hellen Essraum sei es von einer grossen Terrasse und mit Tieren umgeben gewesen. Ausserdem habe es – anders als in anderen Unterkünften –»für jedes Zimmer ein separates WC» gegeben, so ORS.
Aussage gegen Aussage
Obeida erzählt weiter: Einmal, nachdem seine Medikamente aufgebraucht gewesen seien und er trotz Hilferufen nicht zum Arzt gebracht worden sei, habe er aus Angst vor einer Panikattacke eine Ambulanz verlangt. Anstatt ihm zu helfen, hätten die Mitarbeiter die Polizei gerufen. Ihm wurde vorgeworfen, er habe versucht, den verantwortlichen Angestellten anzugreifen, was Obeida bestreitet.
Die Firma ORS nimmt dazu wie folgt Stellung: Die medizinische Betreuung von Obeida sei «jederzeit gewährleistet» gewesen. Obeida sei jedoch regelmässig von seinen traumatischen Erlebnissen eingeholt worden und habe teilweise notfallmässig behandelt werden müssen. Dazu sei er mehrmals von Betreuern persönlich ins Spital gefahren worden. Trotzdem habe sich Obeidas Zustand während des Aufenthalts zunehmend verschlechtert.
Hilfreiche Psychotherapie
Der medizinische Bericht, in den Obeida swissinfo.ch Einblick gewährte, besagt, dass sich sein Zustand jeweils verbesserte, wenn er sich in Psychotherapie begab. Zur Verbesserung trug auch seine Verlegung in das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes in Bern und der Wechsel des Übersetzers bei.
Sobald er aber wieder im Asylzentrum war, ging es ihm erneut schlechter. «Ich wurde stigmatisiert. Es gab kein Bewusstsein für den Umgang mit Sonderfällen wie mir», sagt Obeida.
ORS kontert, den Flüchtlingen werde jederzeit «mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet, wobei insbesondere auf die körperlichen und/oder psychischen Beschwerden Rücksicht genommen wird». Durch die «intensive Arbeit mit Bezugspersonen» setze sich ORS in einem «überdurchschnittlichen Mass» für hilfsbedürftige Menschen wie Obeida ein, «um ihnen auf dem Weg zur Verarbeitung ihrer Erlebnisse bestmöglich Begleitung zu ermöglichen».
Ist Obeida ein Einzelfall?
Laut Matthias Rysler, Leiter der Anlaufstelle des Solidaritätsnetzwerks in Bern, gebe es in der Schweiz ein systemisches Problem im Umgang mit Geflüchteten, insbesondere mit traumatisierten und verletzlichen Personen, die auf besondere Unterstützung angewiesen seien.
Rysler führt das Problem auf «das Fehlen eines systematischen Screenings der Asylsuchenden zurück, um Folteropfer, Traumatisierte und Personen mit besonderen Bedürfnissen zu erkennen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden».
Erst beim Besuch eines Arztes könne eine Traumatisierung respektive ein psychisches oder körperliches Leiden festgestellt werden, sagt Rysler.
«Strukturelles Problem»
Auch für Noémi Weber, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, ist Obeidas Geschichte kein Einzelfall. In der Schweiz gebe es keine nationalen Zahlen zu traumatisierten Asylsuchenden.
Wenn man die weltweite Lage betrachte, so litten laut wissenschaftlichen Studien aber rund die Hälfte der geflüchteten Personen unter psychischen Erkrankungen. Zu den festgestellten Hauptdiagnosen zählten Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.
«Bezüglich der Situation in Bundesasylzenten und bei den Asylverfahren beobachten wir, dass es ein strukturelles Problem gibt bei der Identifizierung von traumatisierten Asylsuchenden», sagt sie. Einerseits würden Traumata zu wenig erkannt und andererseits den Traumata zu wenig Rechnung getragen.
Was können private Zentrumsbetreiber und was nicht?
Matthias Rysler kritisiert ebenfalls, dass es keine gefestigten Abläufe und Regeln gebe, wie mit traumatisierten Flüchtlingen umzugehen sei. Auch würden die bestehenden Unterbringungsstrukturen deren Bedürfnissen in keiner Weise gerecht. «Für Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung oder ähnlichen Krankheiten ist der Aufenthalt in einer Kollektivunterkunft in der Regel besonders belastend und macht krank».
Für ihn steht fest, dass es sich um ein systemisches Problem handle, ausgelöst durch Spardruck und knappe Finanzen. Deshalb erhielten private Organisationen wie die ORS regelmässig Mandate der öffentlichen Hand.
Zu klientenspezifischen Äusserungen wird hier aufgrund des Persönlichkeits- und des Datenschutzes keine Auskunft gegeben.
Zum Resettlement-Programm:
Im September 2013 beschloss der Bundesrat die Aufnahme von insgesamt 500 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen im Rahmen eines Resettlement-Programms. Dabei handelte es sich um Opfer des Syrienkonflikts, in erster Linie um besonders verletzliche Personen, aber auch Frauen und Mädchen. In der Schweiz wurden die Personen auf die acht Kantone verteilt, die sich am Pilotprojekt beteiligten. Der Kanton Solothurn war hierbei der Pilotkanton. Teil des Pilotprogrammes Resettlement war ein spezielles Integrationsprogramm mit Massnahmen und Zielen, die vom Bund vorgegeben wurden. Für die Umsetzung erhielten die Kantone eine erhöhte Integrationspauschale.
Grundsätzlich sollen für die Integration der Resettlement-Flüchtlinge die gleichen Massnahmen und Angebote der kantonalen Integrationsprogramme KIP zur Verfügung stehen, wie für andere Personen aus dem Migrations- und Asylbereich auch. Im Pilotprogramm wurden Massnahmen und Angebote jedoch noch mit spezifischen Integrationsmassnahmen ergänzt. Beispielsweise stand den Flüchtlingen zwei Jahre lang ein Integrations-Coach zur Seite. (Erfahren Sie hier mehr zum ProgrammExterner Link)
Umsetzung im Kanton Solothurn
Der Kanton Solothurn kennt im Asylwesen ein Zwei-Phasen-Modell. Die vom Bund zugewiesenen Personen werden in einer ersten Phase in kantonalen Asylzentren aufgenommen. Während dieses Aufenthalts werden die einzelnen Personen mit den elementaren Grundlagen unserer Sprache, unseres Rechtssystems und mit unserer Lebensweise vertraut gemacht. Im Rahmen der zweiten Phase erfolgt die Zuweisung in eine Gemeinde. Diese beiden Phasen wurden aufgrund der Zielvorgaben des SEM für die Aufnahme von Resettlement-Flüchtlingen intensiviert. D.h., in den kantonalen Zentren wurde bereits intensiv mit der Integration gestartet und ein Integrationscoaching wurde während zwei Jahren eingesetzt.
Im Kanton Solothurn wird die Betreuung und Unterbringung in den kantonalen Asylunterkünften, also die erste Phase, per Leistungsauftrag durch die ORS Service AG erbracht. Mit der Umsetzung des Resettlement-Programmes erhielt die ORS Service AG dann auch den Auftrag, die Betreuung und Unterbringung für diese spezifische Zielgruppe gemäss Bundesvorgaben anzupassen. Die Betreuung mit traumatisierten Personen war ein Teil des Auftrags, dies für die erste und zweite Phase. Das kantonale Amt für soziale Sicherheit überprüft die Erfüllung des vorgegebenen Auftrags qualitativ wie auch quantitativ.
Im Rahmen des Pilotprogrammes Resettlement, wurden neue notwendige Angebote geschaffen, oder bestehende optimiert und weiterentwickelt. So Beispielsweise die Arbeitsintegration für Personen mit PTBS, die Koordination mit der jeweiligen Gesundheitsversorgung, die Akquise und Weiterbildung von jeweiligen interkulturellen Dolmetschenden, die Durchführung von Psychoedukation in den regionalen Asylzentren. Auch die Anforderungen an eine Weiterbildung der Betreuungspersonen in der erste und zweite Phase wurden auf die neue Situation angepasst. Dazu gehört insbesondere auch, das Betreuungspersonal für besondere Zielgruppen zu befähigen. Bei der Betreuung und Begleitung von besonders vulnerablen Personen in den kantonal geführten Asylstrukturen werden dafür Sozialarbeitende mit entsprechender Ausbildung eingesetzt.
Gespart werde dann bei den Angestellten. Nur sehr wenige Mitarbeiter von ORS und anderen privaten Organisationen würden über die für die Betreuung notwendigen Kenntnisse verfügen. In der Regel handle es sich bei den Mitarbeitenden oft um Personen aus ganz anderen Berufsfeldern.
Für Weber ist es grundsätzlich problematisch, wenn der gewinnorientierte Privatsektor in diesem Bereich aktiv wird: «Es stellt sich die Frage, wie viel sie bereit sind, in eine qualitativ gute Betreuung von asylsuchenden Personen zu investieren.»
Im Fall Obeida kritisiert sie insbesondere auch den Ort der Unterbringung. «Wir können nicht nachvollziehen, dass besonders vulnerable Asylsuchende in einer ehemaligen Strafanstalt untergebracht werden». Dadurch könnten bestimmte Emotionen getriggert werden. Im schlimmsten Fall könne es zu einer Retraumatisierung kommen, so Weber.
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