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Atomkatastrophe: Relevanter Teil ist unversichert

Ende März vor 32 Jahren kam es in Pennsylvania (Three Mile Island, Harrisburg), zu einer Kernschmelze. zum schlimmsten US-AKW-Unfall.

Wer haftet für den Schaden einer Atom-Katastrophe? Weder Versicherungs- noch Rückversicherungs-Gesellschaften können nukleare "Rest-Risiken" decken. Das Problem ist "too big, to handle", deshalb muss die Allgemeinheit für den relevanten Schaden aufkommen.

Private Versicherungs-Gesellschaften vermögen eine Vielzahl von Risiken zu decken – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese kalkulierbar sind. Dazu braucht es Statistiken aus der Vergangenheit, die aber auf die Zukunft übertragbar sein müssen (Erfahrungswissen).

«Bei der Versicherbarkeit geht es primär darum, eine genügende Menge von unter sich unabhängigen Schadendaten zu haben und diese Erfahrung zuverlässig auf die Zukunft übertragen zu können», sagt Matthias Haller, emeritierter Professor für Risiko-Management und Versicherung sowie Präsident der Stiftung Risiko-Dialog. Mit anderen Worten: Der Ausgleich nach dem «Gesetz der Grossen Zahlen» sorge dann dafür, dass mit den Beiträgen vieler die relativ wenigen Betroffenen entschädigt werden.

Teure Infrastrukturen: Von Alfred Escher bis Fukushima

Übersteigen solche Risiken die Grösse dessen, was ein Einzelversicherer zu decken vermag, deckt er sich seinerseits in einem Pool oder bei Rückversicherern ab. In der Schweiz war das erstmals 1863 der Fall. Damals gründete Alfred Escher, der auch die Schweizerische Kreditanstalt eröffnet hatte, die Schweizerische Rückversicherungsgesellschaft (heute: Swiss Re).

Es war die Zeit der grossen Infrastrukturvorhaben der Schweiz: Auch als waghalsiger Pionier baute Escher den Tunnel durch den Gotthard nicht ohne seine Risiken abzusichern. Dazu gehörten damals vor allem Naturkatastrophen.

Japans Infrastruktur ist hochentwickelt, komplex und teuer. Das grosse Erdbebenrisiko verursacht hohen Aufwand für die Versicherer. Dieser steigt zudem, weil die Zahl der Naturkatastrophen in den letzten Jahren zugenommen hat.

Allerdings sei festzuhalten, sagt Haller, dass selbst in einem hochindustrialiserten Land wie Japan der Anteil der versicherten Schäden am Gesamtschaden relativ klein ist. Dies zeigte sich bereits im Falle des Erdbebens von Kobe.

Wie aber lässt sich überhaupt das Kernergierisiko berechnen und versichern? Haller weist darauf hin, dass dies zwei völlig unterschiedliche Tatbestände sind. «Einerseits bestehen hochdifferenzierte Ingenieur-Studien für das Risiko an sich, in denen die einzelnen möglichen Störungsquellen (mit ihrer Wahrscheinlichkeit) erfasst werden. Aus der Hochrechnung aller potentiellen Störquellen und -abläufe ergibt sich sodann ein Gesamtrisiko für bestimmte Tatbestände, zum Beispiel den Gau oder den Super-Gau.» Natürlich seien diese Werte minimal, für den Laien an der Grenze zu Null.

Nur: Ob im konkreten Störereignis alle Komponenten sich wie geplant verhalten, ob insbesondere die Störketten richtig vorausgesehen wurden, sei eine ganz andere Frage. Laut Haller zeigt die Erfahrung, dass jeder Grösstunfall – übrigens auch im Finanzbereich – die Eigenschaft hat, dass man den Ablauf so nicht vorausgesehen hatte. Es bleibe das «Rest-Risiko».

Standort in Tsunami-Reichweite

Zum Beispiel wurde in Fukushima das AKW an einen Standort gebaut, der in Reichweite von Tsunamis liegt. Obwohl eine Vielzahl von Erfahrungen aus früheren Fällen vorlagen, hat der Tsunami vom 11. März 2011 offenbar schon in einer ersten Phase die Kühlpumpen zerstört –  einer der entscheidenden Gründe für den weiteren Störfallablauf.

Und wie steht es mit der Versicherung? «Wir reden hier von einer ganz anderen Grössenordnung», sagt Haller. «Studien wie jene von Zweifel/Umbricht von 2001 kommen zu Grössenordnungen eines Super-Gaus von 2000 bis 4000 Mrd. Franken – dies unter Einschluss zum Beispiel des Verlust von Lebensgrundlagen.» Damit sei klar, dass nur ein Minimum, heute im wesentlichen die Anlagen und ein kleiner Anteil an Haftpflicht, versichert werden kann.

«Rest»-Risiko ist «too big to handle»

Mitte Woche gab die Haftpflichtfrage auch im Schweizer Parlament zu reden. In ihrem politischen Vorstoss (Motion) behauptet die Baselstädtische Sozialdemokratin Anita Fetz, in Japan habe sich gezeigt, dass die Haftpflicht der Betreiber im Falle einer Reaktorkatastrophe nie und nimmer ausreiche: Das Problem sei «too big to handle».

Wer aber trägt denn die Risiken? «Das ist von Land zu Land unterschiedlich», sagt Hato Schmeiser, Professor für Risikomanagement und Versicherung an der Uni St. Gallen. Ein Teil sei jeweils privat versichert, einen weiteren Teil decke der Staat. Das sei auch in der Schweiz so. «Aber der eigentlich relevante Teil ist gar nicht versichert.»

In der Schweiz sei das Ganze vergleichsweise «noch gut» organisiert, so Schmeiser gegenüber swissinfo.ch. Auch im Vergleich zu Japan. In der Schweiz verlange neben dem Versicherer auch der Staat eine Prämie vom AKW-Betreiber. Nur: Die versicherte Summe entspreche in einem Schadenfall «sehr schnell sehr wenig Geld». Pro AKW beträgt dies 1, 8 Mrd. Franken.

Haftungsrisiken «einpreisen»?

Eigentlich müssten die Betreiber auch für die grossen Gefahren haften. Laut Schmeiser könnten Versicherungsgesellschaften dies realistischerweise nicht mehr. Wenn aber die Gefahren direkt durch die Allgemeinheit gedeckt werden sollten, müsste diese dafür mit Prämien entschädigt werden.

Da dies meist nicht der Fall sei, käme die de facto begrenzte Haftpflicht einer Subventionierung der Kernenergie gleich. Bei den anderen Energieformen sei dies ähnlich: «Juristisch gesehen kann man einen Betreiber zwar für Schäden haftbar machen. Aber ob er dann wirklich bezahlen kann, ist eine zweite Frage. Also bringt das Ganze nichts.»

Deshalb gebe es Pflichtversicherungen, sagt Schmeiser, die zumindest ein Minimum abdecken. Nur sei das Haftungsproblem bei der Atomenergie virulenter, weil diese vergleichsweise viel grössere Schäden als andere Energieformen anrichten könne.

Schmeiser schliesst eine implizite Subventionierung auch der anderen Energiearten nicht aus. Seines Wissens habe dies noch niemand seriös durchgerechnet. 

Finanzieren liessen sich diese Risiken also nur über höhere Strompreise: Die Haftungsrisiken würden somit «eingepreist», so Schmeiser.

Schweiz kann nicht allein Strompreispolitik betreiben

Würde man den Betreibern von AKW eine realistischere Haftpflicht verordnen, müssten sie den Preis für ihren Nuklearstrom massiv erhöhen. «Es ist ja nicht einzusehen, weshalb die Allgemeinheit Strompreise subventionieren sollte», sagt Schmeiser.

Nur, so schränkt er ein, ergäben sich unerwünschte Effekte, sollte die Schweiz das einzige Land bleiben, das die Strompreiserhöhung durchsetzt. «Spekulanten würden diese Unterschiede im gesamteuropäischen Strommarkt sehr schnell für Arbitrage-Geschäfte ausnützen. Eine lokale schweizerische Lösung ist deshalb unmöglich durchzusetzen.»

Französische Kernenergie wäre dann aus politischen Gründen viel billiger als schweizerische. Obschon die französischen AKW ohnehin nahe an der Grenze zur Schweiz stehen. «Unser Land lebt nicht mehr für sich allein», so Schmeiser. Es gebe ein Pariser Abkommen in diesem Bereich, dem die Schweiz beigetreten sei, für eine Lösung EU plus Schweiz. Und dies sei den Politikern in Bern «weiss Gott bekannt».

Durch die zunehmende Konzentration an Werten und Versicherungsdeckungen kommt es zu immer grösseren Schadenersatz-Zahlungen nach Katastrophen.

Das bisher grösste Schadenereignis dürften die Schäden werden, die durch den Hurrikan Katrina verursacht wurden (geschätzte rund 34,4 Mrd. Dollar).

Bei den von Menschen verursachten Katastrophen gilt 9/11 als kostspieligstes Einzelereignis (rund 20 Mrd. Dollar).

Die Folgen von Asbest (Schadenzahlungen für Erkrankungen) belaufen sich bisher auf schätzungsweise 54 Mrd. Dollar, sind aber auf viele Jahre verteilt. Laut S &P werden sie noch auf rund 200 Mrd. Dollar steigen.

Das Erdbeben in Neuseeland vom 22. Februar 2011 dürfte laut Swiss Re Gesamtkosten von 6 bis 12 Mrd. Dollar kosten. Das Beben in Chile vor rund einem Jahr kostete die Versicherungsunternehmen rund 8 Mrd. Dollar.

Die Rückversicherer verteilen die Last des Risikos von Gross-Schäden auf mehrere Versicherer. Damit tragen sie zur Stetigkeit und Sicherheit des Geschäfts bei.

Damit wird einem Erstversicherer auch ermöglicht, die Deckung für so grosse Risiken anzubieten, die er alleine gar nicht tragen kann.

Seine geografisch breite Streuung des Risikos (diversifiziertes Risiko-Portfolio) hilft dem Rückversicherer, im Fall von Naturkatastrophen die regionale Häufung von Schadensfällen zu decken.

Das Rückversicherungs-Volumen betrug 2009 weltweit fast 160 Mrd. Dollar.

Spenden sind möglich auf das Postkonto 10-15000-6, Vermerk «Japan» oder online.

Seit 2008 beträgt die Haftungssumme des Bundes und der AKW-Betreiber im Fall einer Reaktorkatastrophe wie jetzt in Japan oder wie 1986 in Tschernobyl maximal 1,8 Mrd. Franken.

Diese Summe steht im Einklang mit internationalen Übereinkommen.

Die Parlamentarier, die 2008 diesen Entscheid fällten, wussten allerdings, dass angesichts der möglichen Schäden jedes Festlegen einer Summe reines politisches Ermessen ist.

Eine Studie schätzt das Schadenpotenzial hingegen auf 4000 Milliarden Franken!

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