Auch der Herdenschutz hat Grenzen
In der Schweiz unterstützt der Staat Massnahmen von Viehhaltern, die ihre Herden vor Raubtieren schützen wollen. Der Bund bietet Subventionen, die Kantone beraten. Aber nicht immer sind solche Präventivmassnahmen durchführbar. Experte Silvio Guggiari schildert das Problem.
Unter den Neuerungen, die das neue Jagdgesetz vorsieht, über das die Schweiz am 27. September abstimmt, gibt es einen zentralen Aspekt: Die Entschädigung von Bund und Kantonen für Schäden, die durch geschützte Tierarten verursacht wurden, ist daran gebunden, dass Präventivmassnahmen getroffen wurden. Das geltende Gesetz kennt zwar bereits Entschädigungen, diese sind aber nicht an den präventiven Herdenschutz gebunden.
Ziel ist nämlich, dass auch die Landwirte ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie sind Teil der Kompromisslösung zwischen den Bedürfnissen des Naturschutzes und jener der Landwirtschaft, damit Menschen und Grossraubtiere, insbesondere der Wolf, überhaupt koexistieren können.
Subventionen für Schutzhunde
In 98% der Fälle seien die Massnahmen zum Schutz der Herden – Zäune oder Hunde – wirksam, sagte die stellvertretende Direktorin des Bundesamtes für Umwelt, Franziska Schwarz, als die Schweizer Regierung ihre Kampagne für die Volksabstimmung startete. Ohne Schutzmassnahmen hingegen würden «die Tiere den Raubtieren fast zum Frass vorgeworfen», fügte sie hinzu.
Die Viehzüchter sind indes nicht auf sich allein gestellt. Der Bund gewährt bereits heute Subventionen für präventive Massnahmen für rund eine halbe Million Franken pro Jahr. Wenn die Abstimmung ein Ja zur Revision des Jagdgesetzes bringt, erhöht sich dieser Betrag auf 3 Millionen Franken.
Die Kantone bieten ihrerseits persönliche Informationen und Beratung an. Einige von ihnen haben sogar einen Fachberater für Herdenschutzmassnahmen. Dazu gehört auch das Tessin. Die Stelle wurde für den Zeitraum von drei Jahren extra geschaffen, fast zur Hälfte wird sie vom Bund finanziert.
Der Job des Herdenschutz-Beraters
Was aber macht Silvio Guggiari, der Fachberater aus dem Tessin, im Alltag? Guggiari antwortet schriftlich. Ihm und seinem Arbeitgeber, dem Wirtschaftsdepartement des Kantons Tessin, ist es ein grosses Anliegen, nicht in den Abstimmungskampf einzugreifen.
Guggiari schreibt: «Auf Wunsch des Landwirts analysiere ich den Betrieb im Detail. Dann schlage ich Schutzmassnahmen vor. Über deren Umsetzung entscheidet der Landwirt selbst. Erfolgt ein Riss, gehe ich vor Ort, um dringende Schutzmassnahmen für die spezifische Situation zu eruieren.»
Darüberhinaus hat der Tessiner Experte auch die Aufgabe, die Alpweiden des Kantons zu kartieren: «Wo Schutzmassnahmen möglich sind, muss ich angeben, welche. Wo keine möglich sind, begründe ich dies.»
Damit ist auch gesagt, dass Massnahmen in der Praxis nicht immer durchführbar sind. Dies wird auch im zur Abstimmung kommenden Gesetz berücksichtigt. Es bindet den Schadenersatz an vorbeugende Massnahmen, «die vernünftigerweise beansprucht werden können».
Voraussetzung dafür sind Kenntnisse des Territoriums. Vor allem, aber nicht nur, im Tessin. Denn dort kommt eine Analyse des landwirtschaftlichen Beratungszentrums Agridea zur Einschätzung, dass etwa 70 % der Schaf- und Ziegenweiden nicht nachhaltig geschützt werden können.
Wo der Herdenschutz an Grenzen stösst
Das ist ein hoher Anteil: Guggiari nennt drei Hauptgründe.
«Erstens: Die im Tessin vorhandenen Herden bestehen oft aus wenigen Tieren, weshalb sich die Präsenz eines Schäfers nicht lohnt. Zweitens gibt es auf vielen Alpweiden nicht die notwendigen Strukturen, wie Unterkünfte für die Hirten oder Zugangswege. Drittens sind die Tessiner Täler und Hochgebirgsweiden oft so unzugänglich, weglos und steinig, dass Zäunen nicht möglich ist.»
Grenzen zeigte auch eine 2019 publizierte Studie aus den Kantonen Uri und Wallis auf. Sie kam zum Resultat, dass nur etwa die Hälfte der Zusatzkosten für Herdenschutz auf den Alpweiden kompensiert werden.
Hochgerechnet auf die ganze Schweiz errechneten die Forschenden, dass sich die Mehrkosten auf 7,6 Millionen Franken pro Jahr belaufen würden, bei einem Fehlbetrag von 3,8 Millionen Franken. Für kleine Viehbetriebe würde dies das Ende bedeuten. Es ist daher vorzuziehen, den Schutz der Herden aufzugeben.
Der Bund fördert zwei Massnahmen zum Schutz der Herden vor Wölfen: Zäune und Hunde. Letztere sollten nicht mit Schäferhunden verwechselt werden: Schutzhunde führen die Herde nicht. Sie «handeln unabhängig und folgen den Bewegungen der Herde. Wo sich die Herde befindet, sind die Herdenschutzhunde zu finden. Sie sind praktisch Teil der Herde und bleiben, wenn sie im Einsatz sind, die ganze Zeit bei den Tieren», erklärt Silvio Guggiari.
Gegenüber Zäunen haben Herdenschutzhunde den Vorteil, dass sie auch in unwegsamem Gelände und auf grossen Flächen eingesetzt werden können. Sie stellen aber auch erhebliche Herausforderungen dar.
«Der Prozess der Integration von Schutzhunden in eine Herde ist sehr lang und kann Jahre dauern. Der Hund muss ein Vertrauensverhältnis zum Züchter, zum Schäfer auf der Alp, zu den Tieren auf dem Bauernhof, zu den Tieren auf der Alp von anderen Höfen, zum gesamten Personal auf Alp und Hof, zu den Schäferhunden und auch zu den anderen Schutzhunden aufbauen», erklärt Guggiari.
Der Fachberater aus dem Tessin weist auch darauf hin, dass «die Schutzhunde nicht nur auf der Alp eingesetzt werden, sondern auch während des Winters auf dem Bauernhof bei der Herde bleiben. Daher sollte nicht nur die Alpweide für den Einsatz von Schutzhunden geeignet sein, sondern auch der Winterbetrieb».
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